Albert Schweitzer
Urwald hatte sich durchgesetzt und sein vernichtendes Eroberungswerk vorangetrieben. Der neuerliche Lambarene-Aufenthalt war ursprünglich auf zwei Jahre geplant. Wegen der rasch wachsenden Patientenzahl und einer schweren Dysenterie-Epidemie infolge einer Hungersnot war es bald unumgänglich, das ursprüngliche Spital zu erweitern. Drei Kilometer vom alten Spital entfernt entstand ein neues Spital, in dem Schweitzer nun auch die Möglichkeit hatte, die Patienten mit ansteckenden Krankheiten in gesonderten Gebäuden zu isolieren, und in dem auch psychisch Kranke betreut werden konnten. Das war ihm ein besonderes Anliegen, denn diese Menschen wurden oft von ihren Familien verstoßen oder in den schlimmsten Fällen sogar getötet.
Ab 1925 erhielt Schweitzer medizinische Unterstützung: Zwei Ärzte, Victor Nessmann und Marc Lauterburg, trafen in Lambarene ein und erwiesen sich rasch als wertvolle Hilfe. Sie übernahmen weitgehend die medizinischen Aufgaben, sodass sich Schweitzer noch intensiver um die baulichen Belange kümmern konnte. Zudem fanden sich die Krankenpflegerin MathildeKottmann und die ehemalige Lehrerin Emma Haussknecht als erste weibliche Mitarbeiterinnen in Lambarene ein, auch sie ausgesprochen engagiert und eine spürbare Entlastung für den Urwalddoktor.
Über diese zweite Afrika-Zeit berichtete Schweitzer in loser Folge in einer Reihe populärer Hefte, den „Mitteilungen aus Lambarene“. Solche für ein größeres Publikum gedachten Veröffentlichungen (später noch die „Afrikanischen Geschichten“ von 1938) trugen wesentlich dazu bei, dass Schweitzer und Lambarene europa-weit bekannt wurden, und vor allem, dass sein Werk im fernen Afrika eine solide finanzielle Grundlage hatte.
Aus den geplanten zwei Jahren wurden durch die Dringlichkeit und Fülle der Aufgaben insgesamt dreieinhalb Jahre. Helene und das Töchterchen warteten in ihrem Schwarzwälder Domizil (Königsfeld) sehnsüchtig auf die Rückkehr Alberts. 1925 musste Helene ihrem Mann die traurige briefliche Mitteilung machen, dass der Vater Luois Schweitzer am 5. Mai verstorben sei. Eineinhalb Jahre später, am 27. Oktober 1926, verstarb auch ihr eigener Vater, Harry Bresslau, nach langem Krebsleiden. Beide Todesfälle ereigneten sich also noch während Schweitzers zweitem Afrika-Aufenthalt; wie schon beim Tod der Mutter, war es ihm wieder verwehrt, sich von nahestehenden Menschen verabschieden zu können.
Endlich, nach erfolgtem Umzug in das fertige neue Spital (21. Januar 1927), konnte Schweitzer die lang ersehnte Reise nach Europa antreten. Am 27. Juli verließer zusammen mit Mathilde Kottmann Lambarene, während Emma Haussknecht in Afrika zurückblieb.
Die Rückkehr nach Europa nutzte Schweitzer, um sich bis einschließlich 1929 auf ausgedehnte Konzert- und Vortragsreisen zu begeben. Wieder mussten Frau und Tochter Verzicht leisten. Doch Helene unterstütze ihn, wusste sie doch, dass er auf diese Weise sein Afrika-Werk weithin bekannt machen und finanzielle Unterstützung für Lambarene gewinnen konnte. Schweden, Dänemark, Niederlande, Großbritannien, Tschechoslowakei, die Schweiz und natürlich Deutschland waren die Stationen seiner Vorträge und Konzerte.
Zu Beginn des Jahres 1929 konnte Schweitzer endlich im Kreise der Familie in ihrem Haus in Königsfeld zur lang ersehnten Ruhe finden. Es waren schöne, harmonische Wochen, die er aber auch dazu nutzte, seine 1911 begonnene „Mystik des Apostels Paulus“ zu vollenden. Das Buch erschien 1930 und wurde nach der Leben-Jesu-Forschung das zweite theologische Hauptwerk Schweitzers.
1928 war Albert Schweitzer seine erste große öffentliche Ehrung zuteil geworden: Die Stadt Frankfurt am Main hatte ihm den Goethe-Preis zugesprochen. In seiner Dankesrede am 28. August im Goethe-Haus am Hirschgraben sagte Schweitzer über die Bedeutung Goethes für ihn: „Am Ende meiner Studienzeit las ich einmal fast zufällig wieder von der Harzreise im Winter 1777. Und esergriff mich wunderbar, dass derjenige [= Goethe], den wir als Olympier ansehen, sich im Novemberregen und Novembernebel auf den Weg machte, um einen geistig in schweren Nöten gefangenen Pfarrerssohn zu besuchen und zu versuchen, ihm geistig aufzuhelfen. Über einem Mal leuchtete mir aus dem Olympier der tiefe, schlichte Mensch entgegen. Ich lernte Goethe lieben. Wenn mir dann in meinem Leben es vorkam, dass ich Arbeit auf mich nehmen musste, um dem oder jenem Menschen Menschendienst, der ihm nottat, zu erweisen, da sagte ich
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