Albert Schweitzer
mir: Das ist deine Harzreise.“ Noch in anderer Hinsicht war ihm Goethe wichtig geworden: Das Nebeneinander „von praktischem Tun und geistigen Gestalten“ in Goethes Leben hatte Schweitzer tief beeindruckt. Und schließlich wurde der Dichterfürst ihm auch darin zum Tröster, wenn Schweitzer bei seiner aufreibenden und anstrengenden Arbeit im afrikanischen Urwald zu verzweifeln drohte: „So habe ich Wochen und Monate im Urwald gestanden, mich mit widerspenstigen Arbeitern abquälend, dem Urwald Frucht tragendes Land abzuringen. Wenn ich ganz verzweifelt war, dann dachte ich daran, dass auch Goethe für seinen Faust als Letztes erdacht hatte, dass er dem Meere Land abgewönne, wo Menschen darauf wohnen und Nahrung finden könnten. Und so stand Goethe im dumpfen Urwald als lächelnder Tröster, als großer Verstehender neben mir.“ Es sollte nicht die letzte Rede Schweitzers über Goethe bleiben: Am 22. März 1932 hielt er ebenfalls in Frankfurtdie Gedenkrede zum hundertsten Todestag Goethes (auf diese Rede komme ich noch einmal kurz zurück); im Juli desselben Jahres sprach er in Ulm über „Goethe als Denker und Mensch“; nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er am 8. Juli 1949 in Aspen (Colarado) seine in Amerika viel beachtete Rede „Goethe, der Mensch und das Werk“ anlässlich der Feierlichkeiten zum zweihundertsten Geburtstags des verehrten Dichters. Das mit dem Frankfurter Goethepreis verbundene Geld verwendete Schweitzer übrigens für den Bau eines Hauses in Günsbach, das zur europäischen Schaltzentrale für Lambarene wurde und bis heute geblieben ist. Im Frühjahr 1932 war das neue Haus im elsässischen Heimatort bezugsfertig.
Noch im gleichen Jahr 1928 erhielt Schweitzer die Ehrendoktorwürde der Universität Prag. Und vor seiner erneuten Abreise nach Lambarene erhielt er die schöne Nachricht, dass er auf Vorschlag des von ihm sehr geschätzten Adolf von Harnack zum Ehrenmitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt worden war.
Das Haus in Günsbach, die europäische „Schaltzentrale“ für Lambarene
Zusammen mit Helene reiste Albert am 4. Dezember 1929 erneut nach Lambarene. Helene hatte sehr darauf gedrängt, ihn zu begleiten, obwohl ihr Gesundheitszustand in Anbetracht der strapaziösen Reise alles andere als unbedenklich war. Sie musste denn auch schon Ostern 1930 zurück nach Europa, war jedoch glücklich darüber, die Entwicklung des Spitals vor Ort gesehen zu haben. Nach ihrer Rückkehr begab sie sich ab Juli 1930 für acht Monate in die Behandlung des Lungenspezialisten Max Gerson; ihr Zustand war labiler, als sie das Albert gegenüber jemals eingestanden hatte.
Albert schrieb während des erneuten Lambarene-Aufenthalts als 57-Jähriger seine Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“ (1931), ein Buch, das seinen Bekanntheitsgrad weiter steigerte und das sich zum Segen für das Spital gut verkaufte.
Mit gleich drei Ehrendoktorhüten wurde Schweitzer nach seiner Rückkehr 1932 geehrt: Die Universitäten St. Andrews, Oxford und Edinburgh verliehen ihm diese akademische Würde für Rechtswissenschaften, Theologie und Musik. Im Sommer dieses Jahres war er wieder auf Konzertreisen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien.
N ATIONALSOZIALISMUS , D RITTES R EICH ,
Z WEITER W ELTKRIEG
1932: Der politische Himmel in Deutschland verfinsterte sich zunehmend. Braune Wolken verdichteten sich am Horizont, weiteten sich aus und legten sich über das Land. Im März hielt Schweitzer in Frankfurt die erwähnte Gedenkrede zum hundertsten Todestag Goethes. Darin ging es nicht allein um die Verehrung des großen Dichters. Sie bot Schweitzer auch Gelegenheit, seiner großen Sorge um die politische Zukunft im Heimatland des Dichterfürsten Ausdruck zu verleihen. Seine Worte zeugen von großer politischer Weitsicht und – noch verhalten geäußert – tiefer Abscheu gegenüber dem Menschen- und Weltbild, das sich in Deutschland auszubreiten begann. Die lange Ansprache (30 Seiten in der Druckfassung) enthält in ihren Schlussabschnitten Worte von geradezu prophetischer Dimension: „Goethe ist der erste, der etwas wie Angst um den Menschen erlebt. In einer Zeit, in der die andern noch unbefangen sind, dämmert ihm, dass das große Problem, um das es in der kommenden Entwicklung gehen wird, dieses sein wird, wie sich der Einzelne gegen die Vielheit zu behaupten vermöge ... Und nun, hundert Jahre nach seinem Tode, steht es so, dass durch die Gewalt der Ereignisse und die
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