Albert Schweitzer
Einwirkung einer durch sie bestimmten unheilvollen materiellen Entwicklung auf das Wirtschaftliche, das Soziale und das Geistige allenthalben die materielle und diegeistige Selbständigkeit der Einzelnen, soweit sie nicht schon vernichtet wurden, in schwerster Weise bedroht sind. Des Hinscheidens Goethes gedenken wir in der gewaltigsten Schicksalsstunde, die je für die Menschheit geschlagen hat ... Was sagt er ihr [der gegenwärtigen Zeit]? Er sagt ihr, dass das grausige Drama, das sich in ihr abspielt, nur zu Ende kommen kann, wenn sie die Wirtschafts- und Sozialmagie, der sie sich ergeben hat, von ihrem Pfad entfernt, die Zaubersprüche, mit denen sie sich betört, verlernt und entschlossen ist, um jeden Preis wieder in ein natürliches Verhältnis zur Wirklichkeit zu kommen. Dem Einzelnen sagt er: Gebt das Ideal persönlichen Menschentums nicht preis, auch wenn es den Verhältnissen, wie sie sich ausgebildet haben, zuwider läuft ... Bleibt Menschen mit eigener Seele! Werdet nicht Menschendinge, die sich eine auf den Massenwillen eingestellte und mit ihm im Takt pulsierende Seele einsetzen lassen!“ Und mit einem geradezu flehentlichen Wunsch für die Zukunft heißt es ganz am Ende der Rede: „Ehe zwei Jahrzehnte vollendet sind, wird Frankfurt die zweihundertste Wiederkehr des Geburtstages seines größten Sohnes feiern. Möge dann der, der bei jenem neuen Feste die Gedenkrede halten wird, feststellen dürfen, dass das tiefe Dunkel, in dem wir dieses begehen, sich aufzuhellen begonnen hat ... Möge dann die Zeit angebrochen sein, in der das Leben der Menschheit wieder in harmonischer und natürlich belebter Bewegung dahinfließt ...“ Wie viel Verachtung für die nationalsozialistische Massenideologie,wie viele Befürchtungen um die Zukunft des „Volkes der Dichter und Denker“, wie viel Sorge um das Seelenheil einer politisch verführten Generation klingt in diesen Worten mit! Bleibt noch zu erwähnen, dass die Gedenkveranstaltung im Frankfurter Opernhaus unter Polizeischutz stattfinden musste, weil man ernsthafte Störungen durch die SA zu befürchten hatte. Knapp zehn Monate später war Hitler Reichskanzler; das braune Gesindel hatte die Macht in Deutschland an sich gerissen.
Helene ging es zu dieser Zeit nicht gut; sie musste sich in Berlin einer weiteren Therapie bei Max Gerson unterziehen und litt nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sehr unter der erneuten Verschlimmerung ihres Lungenleidens. Albert besuchte sie im November 1932 in Berlin. Dort erlebte er mit, wie sich durch die Machtergreifung Hitlers, durch dessen totalitäres Gehabe die politische Situation zunehmend verfinsterte. Schweitzer war tief erfüllt von Furcht und Sorge und teilte dies Helene in einem langen Schreiben mit. Er zeigte sich hoffnungslos angesichts der Entwicklungen in Deutschland, nannte die Zeit die schrecklichste nach dem Ersten Weltkrieg. „Gott helfe uns heraus!“ Zur Arbeit musste er sich zwingen, weil er durch die Zeitumstände immer wieder in tiefe Traurigkeit verfiel, sprach davon, keine Kraft zu hoffen mehr finden zu können. „Ehe der neue Geist [der Ehrfurchtsethik] kommen kann, hat der Wahnsinn der Völker alles zerstört, was noch steht ... Aber ich zwinge mich immer wieder zum Hoffen.“
Helenes Arzt Max Gerson war Jude und wurde unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung aus dem Dienst entlassen. Helene sah sofort, dass ihre Situation durch die immer offener zur Schau getragene Judenfeindlichkeit der Nazis gefährlich werden könnte, denn schließlich war auch sie jüdischer Abstammung. Sie beschloss, mit Rhena nach Lausanne in die politisch neutrale Schweiz zu gehen.
Schweitzer selbst wurde in dieser äußerst angespannten Zeit mehrfach aufgefordert (unter anderen von Max Born, dem er seit ihrem Kennenlernen 1928 freundschaftlich verbunden war), seine Stimme in der Heimat gegen die braune Brut zu erheben. Man hoffte, dass Schweitzers inzwischen große Bekanntheit und weltweite Anerkennung seiner Stimme Gewicht verleihen würde, um der unheilvollen Ideologie der Nationalsozialisten Einhalt zu gebieten. Schweren Herzens lehnte Schweitzer ab, argumentierte, dass er gerade in solchen Notzeiten seine afrikanischen Patienten nicht im Stich lassen dürfe. Was er von der politischen Landschaft im Deutschland der sterbenden Weimarer Republik und des aggressiv aufkeimenden Nationalsozialismus hielt, drückte Schweitzer schon in einem Brief von 1930 (!) unmissverständlich aus: „Die deutschen Parteiführer
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