Albertas Schatten
Biddy freute sich auf ein Treffen mit Kate. Es hatte den Anschein, als wären Kalifornier von Natur aus gastfreundlich und als hätten die Besucher des Landes diese Gewohnheit ebenfalls angenommen. Kate sagte, sie wolle in einem Motel in der Nähe wohnen.
»In Ordnung«, sagte Biddy, »aber denken Sie daran, daß in Kalifornien der Begriff ›in der Nähe‹ sehr relativ ist. Zwei Stunden hin und zurück, nur um zum Dinner zu gehen, ist gar nichts.«
»Ich werde auch einen Wagen mieten«, sagte Kate.
Zwei Tage später übernahm sie den Wagen am Flughafen von San Francisco und fuhr dann in Richtung Santa Cruz. Lillian, die ihre Rolle als Assistentin bei Kates Nachforschungen den Watson-Pflichten vorzog, hatte Kate mit Kopien von mehreren kürzlich er-schienenen Artikeln über die Stadt Santa Cruz versorgt. Man konnte daraus entnehmen, daß sie gewissermaßen die Atmosphäre der sechziger Jahre hatte, was Kate keineswegs störte. Es mochte damals eine Reihe von Auswüchsen gegeben haben, aber Selbstsucht war noch nicht zur heiligen patriotischen Pflicht des »wahren Amerikaners«
erklärt worden, genausowenig wie Konsumzwang und Militarismus als Hauptziele der Demokratie galten. Kate glaubte nicht wirklich, daß die Menschen sich geändert hatten; aber sie hatte den Eindruck, die Institutionen, von den Religionen bis zu den Regierungen, hätten sich geändert und das unter Berufung auf das Wort Gottes. Kate war der Meinung, das Wort Gottes diente jedem als Erlaubnis, genau das zu tun, was ihm am nützlichsten schien. Wenn es Santa Cruz gelungen war, in dieser Hinsicht hinter der Zeit zurückzubleiben, war Kate ganz froh. So lästig die Radikalen auch sein konnten, sie hatten wenigstens nicht die Macht auf ihrer Seite.
Die Anlage des Campus von Santa Cruz war eindeutig eine Reaktion auf die Erfahrung mit den Radikalen von der Art, die die Vietnam-Proteste angezettelt hatten – obgleich er schön gelegen war, inmitten eines riesigen Sandelholzwaldes. Es gab keinen freien Platz in der Mitte des Campus, nirgends konnte man zusammenkommen, sich versammeln, protestieren. Die verschiedenen Colleges waren alle in unterschiedlichen architektonischen Stilrichtungen gebaut, und jedes blieb gewissermaßen für sich, im Schutz des Sandelholzwaldes, beinahe wie in der Landschaft verstreute einzelne Anwesen.
Kate war es gewöhnt, über offene Plätze voller Studenten zu gehen, die immer irgend etwas zu feiern hatten, von der Autonomie Mittel-amerikas bis zur Wiederkehr des Frühlings; hier fühlte sie sich eher so unbehaglich wie Daniel Boone, durch Wälder streifend und über schluchtenüberspannende Brücken wandernd.
Nachdem sie sich in ihrem Motel am Rande der Stadt einquartiert hatte, war Kate vorbei an Herden von grasenden Rindern zum Campus gefahren. Sie hatte sich einen Plan besorgt und fand so das Cowell-College auf Anhieb. Wie selbstverständlich sah man vom Park-platz aus über die Bucht. Wie Biddy Kate erklärte, war dies die Art von Aussicht, der die Kalifornier ihre bekanntermaßen hohe Lebens-erwartung verdanken. Die Apartments für die Gastdozenten dagegen waren dunkel und ohne Aussicht – leider –, aber recht geräumig.
Kate trank ein Glas Eistee und sagte, wie verunsichert sie in bezug auf eine zweckmäßige Kleidung in diesem Klima sei. »Zuerst war mir kalt«, sagte sie, »und jetzt ist mir heiß. Ist das jeden Tag so?«
»Man beginnt den Tag, indem man verschiedene Kleidungsstük-ke übereinander anzieht und sich ihrer nach und nach mit steigenden Temperaturen entledigt; man stapelt sie zu einem De-rigeur-Paket, das man täglich braucht. Es dauert ein Weilchen, bis man das alles heraus hat.«
»Fühlen die Kinder sich hier wohl?« fragte Kate.
»Oh ja, obwohl sie die Schule furchtbar finden. Jeder ist hier schrecklich relaxed. Wahrscheinlich ist das gut so, aber wenn man vom Osten kommt, ist man sehr in Versuchung, dauernd jedem zu sagen, er solle sich zusammenreißen.«
»Und die Studenten?«
»Sehr gut. Und die Fakultät hier ist wirklich allererste Klasse; es ist interessant.«
Nach diesen Eröffnungszügen schaute Kate sich um, unsicher, wie sie fortfahren sollte. Der Raum glich auf merkwürdige Weise ihrem Problem. Die Sonne schien durch die Terrassentür im Hinter-grund und heizte den Raum so auf, daß man die Vorhänge zuziehen mußte. Die Vorhänge an den Panoramafenstern der Vorderseite mußten zur Wahrung der Privatsphäre zugezogen werden. Dies führ-te natürlich dazu, daß es dunkel
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