Albertas Schatten
ihren Mann warnen, aber falls sie das vorhat, tut sie es jetzt sowieso. All dies schoß Kate durch den Kopf; schließlich entschied sie sich, wie es ihre Art war, für die Seite der Wahrheit und des Vertrauens, und zwar nicht aus Prinzip, sondern aus der Überzeugung, daß es niemandem helfen würde, wenn sie einander mit Argwohn gegenüberstünden, am allerwenigsten aber Alberta.
»Ist Alberta etwas zugestoßen?«, fragte Biddy nochmals.
»Ich weiß es nicht«, sagte Kate. »Das ist die Wahrheit. Ich weiß es wirklich nicht. Niemand scheint zu wissen, wo Alberta ist. Sie ist verschwunden. Schauen Sie, ich will Ihnen die ganze Geschichte von Anfang an erzählen, und dann können Sie entscheiden, ob Sie mir erzählen wollen, was Sie über Alberta wissen oder nicht. Was meine Person betrifft, so bin ich die Professorin, als die ich mich vorgestellt habe, von der Universität, die ich genannt habe; im Moment stelle ich Nachforschungen über den Verbleib von Alberta an, die ich selbst nie kennengelernt habe. Das habe ich Ihnen ja schon gesagt.
Gibt es noch etwas, das Sie über mich wissen möchten?«
»Sind Sie der Meinung, Mary Garth hätte Farebrother heiraten sollen?« fragte Biddy. »Und woher wußte Daniel, daß er Jude war?
Warum schaute er nicht an sich herab?«
»Wie bitte?« sagte Kate. Sie blickte sich in dem nach außen so abgeschotteten Raum um und überlegte, ob sich die Realität plötzlich in einen Schauerroman verwandelt hätte.
»Beantworten Sie nur einfach die Fragen. Wenn Sie wirklich Professorin für viktorianische Literatur sind, sind die ganz einfach.
Ich bin bestimmt nicht paranoid; nur vorsichtig. Mein Leben war in letzter Zeit nicht einfach.«
»Mary Garth war nie eine meiner Lieblingsgestalten in der Literatur. Offen gesagt, ob sie nun Fred Vincy geheiratet hat oder nicht, sie hätte immer nur Söhne gehabt und die Rolle der patriarchalischen Frau gespielt. Es ist meiner Meinung nach Eliots einziges schwaches Happy-End, aber dieser Standpunkt wird nicht allgemein geteilt.
Was nun die Frage betrifft, warum Daniel niemals an sich herab-sah und feststellte, daß er beschnitten war, so glaube ich, daß das nie jemand beantwortet hat, aber unter anderen hat Steven Marcus es versucht. Reicht das? Nebenbei gesagt, dachte ich, Ihr Gebiet wäre die vergleichende Literaturgeschichte der Renaissance.«
»Mein Mann hat mit der viktorianischen Literatur angefangen und ist dann in die Moderne gegangen. Ich nehme an, Sie sind die, für die Sie sich ausgegeben haben. Haben Sie ›Shirley‹ gelesen?«
»Ja.«
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Sehr. Eine der Professorinnen, die hier Dekan war, hat eine gute Abhandlung darüber in ihrem Buch geschrieben.«
»In Ordnung«, sagte Biddy. »Sie haben bestanden. Erzählen Sie mir die Geschichte.«
Während Kate Biddys einfache Fragen beantwortete – für jemanden, der diese Romane seit der Collegezeit nicht mehr gelesen hatte, waren sie vielleicht nicht ganz so einfach –, hatte sie in Gedanken versucht, ihre Geschichte zu strukturieren. Sie beschloß, sie so zu erzählen, wie sie sich wahrscheinlich ereignet, und nicht, wie sie sich für Kate selbst entwickelt hatte.
»Alberta Ashby könnte 1980 auf dem MLA-Kongreß in Houston, Texas, gewesen sein. Es ist nicht sicher, daß sie dort war, und wenn doch, dann ist es eigenartig, daß sie die ganze Reise auf sich genommen hat, um ein Referat über ihre Nenn-Tante, Charlotte Stanton, zu hören; sie hätte doch genausogut die Referentin bitten können, ihr eine Photokopie zuzuschicken. Das nächste, was ich von Alberta weiß, ist, daß sie im vergangenen Jahr mit einer Bekannten von mir nach England gereist ist. Sie wollten eine Freundin von Albertas lange verstorbener Nenn-Tante besuchen; meine Bekannte, Charlie, will eine Biographie über Charlotte Stanton schreiben. Charlie und Alberta besuchten Sinjin, die Freundin der Tante; danach ist Alberta einfach verschwunden. Vielleicht ist sie in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, aber niemand hat sie finden können. Der Detektiv, der beauftragt worden war, sie aufzuspüren, hat ein Tagebuch gefunden, das sie auf der Farm geschrieben hatte, auf der sie arbeitete.« Kate sah, wie Biddy den Kopf hob, und sah auch, daß sie entschlossen war, keine Fragen zu stellen.
»Das Tagebuch handelt überwiegend von den Besuchen in England, die sie in ihrer Kindheit gemacht hatte, und von ihrem Leben auf der Farm«, fuhr Kate nach einer kaum merklichen Pause fort.
»Das
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