Albspargel
würde. Ich hatte mir überlegt, ob ich nicht einfach als stummer Gast dasitzen sollte. Aber das ging nicht. Jeder würde an meinen Lippen hängen, als wäre dahinter das Evangelium verschlossen. Ich würde reden, kurz, präzise, neutral, ergebnisoffen.
Als ich den Kronensaal betrat, wurde es augenblicklich still. Die Gesichter an den langen Tischen und von den Eckbänken wandten sich mir zu. Dann setzte aufgeregtes Tuscheln ein.
Keine Frage: Alle wussten, wer ich war – das hatte sich längst herumgesprochen. Vielleicht war ich ja sogar in der Presse angekündigt worden; es gab fast nichts im Zusammenhang mit Windkraftanlagen, das ich nicht schon erlebt hatte. Und solange ich keine Entscheidung gefällt hatte, waren fast alle im Saal auf meiner Seite. Denn jeder, ob für die Windanlage oder dagegen, erhoffte sich von mir wissenschaftlichen Beistand als Bestätigung seiner Ansicht oder Bestrebungen.
Ich machte mir klar, dass sich niemand im Saal vorstellen konnte, dass ich noch keine Meinung hätte.
Dass jemand sich seine Meinung erst langsam nach Fakten bildet, vollzieht keiner nach, der sich bereits im Netz der eigenen Rechthaberei verstrickt hat. Wer von der absoluten Richtigkeit seiner Meinung überzeugt ist, weicht jeder Diskussion aus, zumindest hört er nicht zu; er setzt alle Mittel ein, um den Gang der Dinge zu bestimmen – und wird schließlich selbst vor Verdrehungen, Entstellungen, Verleumdungen, Lügen, Beschimpfungen, im schlimmsten Fall vor Drohungen oder gar Gewaltanwendung nicht zurückschrecken: Die Wahrheit, denkt er, setzt ihn ins Recht; und sie gilt es mit allen Mitteln durchzusetzen. Unrechtsbewusstsein ist in einem solchen Fall nicht mehr zu erwarten.
Hatte ich alles schon erlebt.
Wichtig war für mich nebenbei: Solange keine Entscheidung gefallen war, würde mir keiner, der nicht ganz unberührt war von dem neuen Projekt, Dinge vorwerfen, die vor zwanzig Jahren geschehen waren.
Während ich solche Erwägungen traf, schob sich ein Bauer vor und stellte sich vor Fritz und mich.
»Der Melcher«, flüsterte mir Fritz zu. »Vorsicht, ein Gegner, und was für einer!«
Melchior Siefert aus Tigerfeld, ich erkannte ihn wieder. Er war wohl bei irgendeiner Behörde in Reutlingen, mehrere Jahre älter als ich. Er musste längst im Ruhestand sein.
»Ein nettes Pärchen!«, rief Melcher so laut, dass sich die meisten Gesichter wieder uns zukehrten. »Der verlogene Fritz und der windige Felix! Berg und Tal kommen nicht zusammen«, fuhr er fort, »aber Feuer und Wasser oder noch besser: Geld und Wind.«
Fritz Pocherd trat einen Schritt vor.
Der Melcher wandte sich zu den Leuten, die sich in der Saalöffnung drängten. »Wollen wir doch sehen, wer gewinnt. Der Felix hat mehr Verstand und Erfahrung damit, doch ich sage euch, auch der Fritz ist zu allem fähig.«
Damit verschwand er. Im Saal sah ich ihn während des ganzen Abends nicht mehr.
Der Kronensaal des Herrn Mazzuoli war mehrfach modernisiert worden und machte jetzt ganz auf altdeutsch. Alte Holzspeichenräder waren an den Wänden befestigt, daneben Pflugscharen, Holzgabeln, Sensen, Sicheln, Dreschflegel und Mehlsäcke, mit Frakturschrift bedruckt, eine Spätzlespresse, dazu ausgestopfte Bussarde und Habichte, zwei Fasanen, ein Fuchs und ein Dachs, viele Geweihe von Rehböcken und ein paar von Hirschen, darunter zwei Vierzehnender, die – vielbewundert und voll Fliegendreck – schon in meiner Kindheit da hingen. Messingleuchter an den Wänden und auf Wagenrädern montierte Glühbirnen an der Decke verbreiteten ein eher trübes Licht.
Der Saal füllte sich. Alle Tische waren besetzt; bis auf den Gang hinaus standen die Menschen, überraschend viele Frauen, dazu grinsende Jugendliche; die Luft war dick wie Brei. Wäre Rauchen nicht verboten gewesen, man wäre erstickt.
Mit Gläsern und Bierkrügen klingelnd und mit Tellern voll Bratwürsten mit Kopf- und Kartoffelsalat eilten Mädchen und junge Frauen als Bedienungen von Tisch zu Tisch – wohl aus der ganzen Gegend zusammengetrommelt.
Es gab ein Podium mit Ortsgrößen aus Tigerfeld, Pfronstetten, Huldstetten und Geisingen, dazu einige Fachleute. Jeder würde seine Erklärung abgeben und dabei nach seiner Anhängerschaft schielen. Der Abend würde sich ziehen.
»Wieso sitzt du nicht mit da oben?«, fragte mich Fritz Pocherd, »man kann doch auf Männer wie dich nicht verzichten.«
Ich gab keine Antwort.
Einige im Saal nickten mir zu und grinsten.
Herr Mazzuoli stand schwitzend an
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