Albtraum
„Es muss schwierig sein, bei einem Fall wie diesem alle Beweise zu sichten.“ Sie schauderte.„Ich meine, wird der Angeklagte nicht beschuldigt, seine Freundin in Stücke gehackt zu haben?“
Die Medien hatten seinen Klienten Dr. Tod getauft, zum einen wegen der Art des Verbrechens und zum anderen, weil Dr. Robert Wellever in New Orleans ein prominenter Chirurg war. „Einige Beweise sind ziemlich grauenvoll“, stimmte er zu. „Aber es ist meine Aufgabe, und es muss gemacht werden.“
„Glauben Sie, dass Sie ihn frei bekommen?“
„Ich hoffe es. Er ist unschuldig.“
„Aber was …“ Sie beendete den Satz nicht. „Ach, egal.“
„Fahren Sie fort, Julianna. Was wollten Sie sagen?“
„Was wäre, wenn er nicht unschuldig ist. Besser gesagt, was wäre, wenn Sie von seiner Schuld überzeugt wären?“
„Dann würde ich ihn trotzdem vertreten. In diesem Land ist man unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist. Jeder Amerikaner hat Anrecht auf einen fairen Prozess und vorurteilsfreie Vertretung seiner Interessen.“
Er sah ihr in die Augen und entdeckte den Eifer, die Ehrfurcht und die Bewunderung der Jugend. Er gestand sich ein, dass es ihm gefiel, so verehrt zu werden. Er fühlte sich wieder jung, als könnte er die Welt erobern. „Und das ist genau der Grund, weshalb ich mich um das Amt des Distrikt-Staatsanwaltes bemühe. Ich möchte einmal auf der anderen Seite des Gesetzes stehen. Ich habe Typen verteidigt, die so schuldig waren wie die Sünde. Ich wusste es, weil sie es mir gestanden hatten. Trotzdem präsentierte ich den Fall, so gut es beiden gegebenen Beweisen möglich war, und bekam sie frei. Mir gefiel nicht, wie ich mich dabei fühlte. Etwa so, als brauchte ich dringend ein Bad.“ Er lachte eine Spur befangen, als wundere er sich, wieso er ihr diese Gedanken anvertraute. „Ein paar Mal habe ich mir gewünscht, die kranken Bastarde selbst einbuchtenzu können. Ich wäre gern an den Richtertisch getreten und hätte die ganze Wahrheit erzählt.“
„Puh.“ Sie lehnte sich mit blitzenden Augen zu ihm vor. Dabei klaffte der Ausschnitt ihrer Bluse ein bisschen weiter auseinander und gab die Wölbung einer Brust frei. Verlangen durchzuckte ihn wie ein Blitz. Schuldbewusst riss er den Blick von ihr los. Julianna betrachtete ihn unter leicht gesenkten Lidern hinweg und sagte: „Es ist wirklich eine Ehre, für Sie zu arbeiten.“
Er lachte. „Das klingt, als wäre ich ein faltiger, arthritischer Richter am Obersten Gerichtshof.“
Sie fiel in sein Lachen ein. „Das sind Sie ganz und gar nicht. Sie sind der sexieste Mann …“ Verlegen schlug sie sich mit einer Hand auf den Mund und errötete. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe. Es tut mir sehr Leid.“
„Entschuldigen Sie sich nicht, um Himmels willen. Ich bin zwar alt, aber noch nicht tot. Ein solches Kompliment von einer schönen Frau ist verdammt nett.“ Besser als nett, fügte er im Stillen hinzu. Aufregend. Belebend. Es schien Ewigkeiten her, seit jemand ihn so bewundert hatte wie Julianna. Auch Kate tat das nicht mehr. Heutzutage sah sie in ihm zuerst den Vater, dann den Mann. Er war nicht mal sicher, ob sexy als Beschreibung seiner Person auf ihrer Top-Ten-Liste in die Ränge käme.
„Danke“, sagte sie leise, „für die schöne Frau.“
„War mir ein Vergnügen“, erwiderte er lächelnd und merkte, dass er mit ihr flirtete, und das nicht zu knapp. Obwohl er sich ermahnte, die Unterhaltung wieder auf Berufliches zu lenken, beugte er sich zu ihr vor. „Erzählen Sie mir etwas von sich, Julian na. Sie arbeiten seit zwei Wochen für mich, und ich weiß nicht mehr von Ihnen als an dem Tag, als wir uns kennen lernten.“
Sie schob ihr halb gegessenes Sandwich zurück. „Was möchten Sie wissen?“Alles, dachte er. Was du magst und nicht magst, wie deine Kindheit war, welche Qualitäten du bei einem Mann suchst.
Verunsichert schluckte er trocken. Solche Gedanken hatte er seit seiner Heirat nicht mehr gehabt. Sicher, er hatte gelegentlich im Vorbeigehen den Busen oder Hintern einer Frau bewundert und sich flüchtig gefragt, wie sie im Bett sein mochte. Das tat wohl jeder.
Aber das hier war anders. Er hatte ernsthaftes Interesse an der Person Julianna. Das ging tiefer als die flüchtige Erregung über einen kurzen Rock oder ein bisschen nackte Haut.
Interesse an einer Person zu haben, die zufälligerweise eine hübsche Sekretärin war, war zum Glück kein Verbrechen. Es bedeutete nicht, dass er sich zum
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