Alcatraz und die dunkle Bibliothek
– Scham, Seelenqualen, Paranoia, Unsicherheit – fast mein ganzes Leben lang mit mir herumgetragen. Jetzt, wo ich diese Gefühle nicht mehr verdrängte, konnte ich anfangen, mich von ihnen zu lösen. Das machte mich nicht zu einem perfekten Menschen, und es änderte auch nichts an dem, was ich getan hatte. Aber es sorgte dafür, dass ich aufstand und mich der Situation stellte, und zwar mit einem Funken mehr Entschlossenheit als zuvor.
Ich war ein Smedry. Und auch wenn ich mir immer noch nicht sicher war, was das genau bedeutete, bekam ich doch langsam eine Vorstellung davon. Ich durchquerte die Zelle, ging an Sing vorbei und hockte mich neben Bastille.
»Hör zu, Bastille«, flüsterte ich. »Wir haben jetzt lange genug gewartet. Wir müssen uns überlegen, wie wir hier rauskommen.«
Als sie zu mir hochsah, erkannte ich, dass ihr Gesicht tränenverschmiert war. Überrascht blinzelte ich sie an. Warum hat sie denn bitte schön geheult?
»Rauskommen?«, fragte sie resigniert. »Wir werden hier nicht rauskommen! Diese Zelle wurde extra dafür gemacht, Leute wie dich und mich einzusperren.«
»Es muss doch einen Weg geben.«
»Ich habe versagt«, sagte sie leise, als hätte sie mich gar nicht gehört.
»Wir haben für so etwas jetzt keine Zeit, Bastille.«
»Was weißt du denn schon? Du warst dein Leben lang ein Okulator, und hast du irgendetwas daraus gemacht? Nein! Du hast es ja noch nicht einmal gewusst. Findest du das vielleicht fair?«
Ich zögerte kurz und fuhr mir dann mit der Hand über das Gesicht. Das hatte ich gar nicht bemerkt – meine Linsen waren verschwunden. Klar, ist doch logisch, dachte ich. Sie haben mir meine Jacke abgenommen, in der Tasche waren die Fährtenspürlinsen und die Feuerspenderlinsen. Bastilles und Sings Kriegerlinsen haben sie ebenfalls mitgenommen. Da haben sie natürlich auch meine Okulatorenlinsen einkassiert.
»Es ist dir gar nicht aufgefallen, oder?«, fragte Bastille verbittert. »Sie haben dir dein mächtigstes Werkzeug weggenommen, und du hast es nicht einmal bemerkt.«
»Ich hatte sie ja auch noch nicht lange«, rechtfertigte ich mich. »Genau genommen erst seit ein paar Stunden. Ich schätze, es hat sich einfach ganz normal angefühlt, dass sie nicht da waren, als ich aufgewacht bin.«
»Ganz normal, dass sie nicht da sind«, wiederholte Bastille kopfschüttelnd. »Warum bist ausgerechnet du dazu bestimmt, ein Okulator zu sein, Smedry? Warum du?«
»Sind nicht alle Smedrys Okulatoren?«, fragte ich verwirrt. »Oder zumindest alle in der direkten Abstammungslinie?«
»Die meisten schon«, gab sie zu. »Aber nicht alle. Und es gibt haufenweise Okulatoren, die keine Smedrys sind.«
»Ganz offensichtlich«, stellte ich mit einem Blick in Richtung des Raumes fest, in dem Blackburn und Ms. Fletcher sich wohl gerade aufhielten.
Dann sah ich wieder Bastille an und neigte nachdenklich den Kopf. Sie starrte mich trotzig an. Das ist es. Das habe ich übersehen. »Du wolltest eigentlich einer werden, oder? Ein Okulator.«
»Das geht dich verdammt noch mal nichts an, Smedry.«
Aber dadurch ergab zu vieles plötzlich einen Sinn, als dass ich es hätte ignorieren können. »Deswegen weißt du so viel über die Aura eines Okulators. Und du konntest bestimmen, welche Linsen Blackburn gegen uns eingesetzt hat. Du musst verdammt viel gepaukt haben, sonst wüsstest du nicht all das über diese Dinge.«
»O ja, und es hat mir auch wirklich viel gebracht«, schnaubte sie leise. »Ich habe vor allem gelernt, dass noch so viel Pauken nicht ändern kann, was du bist. Ich wollte immer etwas sein, das ich einfach nicht bin – und das Schlimmste ist, dass sie mich auch noch alle darin bestärkt haben. ›Du kannst alles werden, was du willst, solange du dir nur genug Mühe gibst!‹, haben sie gesagt. Tja, weißt du was, Smedry? Das waren nichts als Lügen. Es gibt Dinge, die du einfach nicht ändern kannst.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
Bastille schüttelte nur den Kopf. »Du kannst nicht lernen, etwas zu sein, was du nicht bist. Ich werde nie ein Okulator werden. Ich werde mich damit abfinden müssen, das zu sein, von dem meine Mutter immer behauptet hat, es sei für mich geeignet. Wofür ich offenbar ›begabt‹ bin.«
»Und das wäre?«
»Na ja, Krieger eben«, seufzte sie. »Aber ich schätze, darin bin ich auch nicht besonders gut.«
Ihr erwartet jetzt wahrscheinlich, dass die arme Bastille bis zum Ende dieses Buches eine »wichtige Lektion lernen«
Weitere Kostenlose Bücher