Alchemie der Unsterblichkeit
stieg. Er wünschte, er könnte ebenso gelassen sein. Icherios zwang sich, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Seine größte Überlebenschance lag in der Aufklärung der Morde. Falls der Fürst nicht selbst der Mörder war.
Kolchin fuhr sich mit den Händen durch die nassen Haare. »Man kann sein ganzes Leben hier verbringen und gewöhnt sich trotzdem nicht an die Feuchtigkeit.«
Icherios war nicht nach sinnlosem Geplapper. »Gibt es eigentlich Boote am See?«
»Natürlich, sie liegen an Nordufer, frei verfügbar.«
»Dann könnte also jemand zum Friedhof gerudert sein, die Leichen entfernt und die Ghoule in die Särge gepackt haben. Anschließend muss der Unbekannte die Leichen mit Steinen beschwert und im See versenkt haben.«
»Das kann nicht sein. Jeder weiß, dass die Seemännchen alles an das Ufer bringen, das nicht in ihr Reich gehört.«
Icherios stöhnte innerlich auf. War das etwa wieder eine Sagengestalt, die er noch vor einigen Tagen als dummen Aberglauben abgetan hätte? »Was sind denn Seemännchen?«
Kolchin zuckte mit den Schultern. »Gute Geister, die den See schützen. Wann immer man etwas in ihm verliert, ein Boot sinkt oder eine Leiche verschwindet, findet man es am nächsten Tag am Ufer. Das ist einer der Gründe, warum Vampire den See nicht überqueren können.«
»Dann trifft das vermutlich auch auf Ghoule zu.«
»Sie sind nicht normal, also können sie das heilige Wasser nicht passieren.«
»Werwölfe sind ebenfalls nicht normal.«
»Das ist etwas anderes.«
»Nehmen wir an, dass es nicht möglich ist, Ghoule über den See zu bringen. Wie gelangten sie sonst auf den Friedhof?«
»Sie müssen dort erschaffen worden sein oder man brachte sie über die Brücke. Vampire fühlen sich auf ihr unwohl, aber sie könnten es ertragen.«
Icherios bezweifelte, dass es Seemännchen gab, aber solange die Dorfbewohner daran glaubten, würde keiner von ihnen eine Leiche in den See werfen. Wurden die sterblichen Überreste zerhackt, vergraben oder an die Worge verfüttert? Icherios schüttelte sich bei dem Gedanken. Welche Möglichkeiten boten sich noch? Verbrannt! »Sagtet Ihr nicht, dass es hier eine Köhlerei gibt?«
Kolchin nickte, aber sein Gesicht war eine einzige Frage.
»Wo ist sie, und wer betreibt sie?«
»Sie liegt eine gute halbe Stunde in den Wald hinein, flussaufwärts vom See aus. Meister Kuntz Belwin ist der Eigentümer. Er war ein enger Freund meines Vaters.«
Icherios trat einen Stein zur Seite. »Leichen zu verbrennen, erfordert hohe Temperaturen und viel Zeit. Wenn ich eine Leiche entsorgen wollte, würde ich es in der Köhlerei versuchen. Wir müssen dorthin.«
»Wir sollten reiten, ansonsten holt uns auf dem Rückweg die Dunkelheit ein.«
Icherios stimmte zu. Seine Knie wurden weich beim Gedanken daran, eine Nacht außerhalb der schützenden Mauern Dornfeldes verbringen zu müssen. Erst recht nicht ohne Kutsche und eine Meute Worge an seiner Seite.
»Wo bekommen wir Pferde her?«
»Ich habe zwei. Keine schnellen Reittiere, aber sie sind tapfer und treu. Sie stehen bei Herrn Flauer.«
Sie machten sich zügigen Schrittes auf den Weg zur Wache, denn dort gegenüber sollte der Stall liegen. Im Dorf angekommen verließen sie den Hauptweg, um eine Abkürzung durch eine Gasse zu nehmen. Die Häuser neigten sich, geschwächt vom Alter und von der Witterung aufeinander zu, sodass sich ihre Giebel an manchen Stellen sogar berührten und den Weg in eine Art Tunnel verwandelten. Von schiefen Fensterläden tropfte Wasser, das der Nebel an ihnen hinterlassen hatte. Am Ende der Gasse hockte neben der Haustür eines kleinen, verwitterten Gebäudes eine alte Frau auf einem niedrigen Schemel. Unter dicken Decken ragte eine vorspringende, warzige Nase hervor. Als Icherios an ihr vorbeiging, stieß sie ihren krummen Stock zwischen seine Beine. Stolpernd versuchte er sich an der Hauswand festzuhalten. »Frau, seid Ihr von allen guten Sinnen verlassen?«
Kolchin packte Icherios am Arm und versuchte ihn weiterzuziehen. »Lasst die alte Vettel. Sie ist nicht der Mühe wert.«
Hinter den Decken erklang ein keckerndes Lachen. »Glaubst du, Jungchen?« Ächzend richtete sie sich auf, wobei sie sich schwer auf ihren Stock stütze. Das Alter hatte sie gebeugt und ihre Knochen verbogen, sodass sie wie ein krummer Rebstock wirkte. »Dein Vater hat mehr Respekt vor dem Alter gezeigt.« Sie trat auf Icherios zu. Kam ihm zu nahe, viel zu nahe. Er roch den fauligen Geruch ihres Atems, den
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