Alchemie der Unsterblichkeit
verhören sollte oder nicht. Einerseits glaubte er seinem Begleiter und wollte ihre sich gerade entwickelnde Freundschaft – seine erste seit Vallentins Tod – nicht riskieren. Andererseits fürchtete er, der Meister könnte sich irren oder gar selbst in die Morde verwickelt sein. Die Menschen Dornfeldes vertrauten einander, niemand konnte in ihren Augen der Täter sein, doch irgendjemand war es. Zumindest wenn man sich auf die Aussagen der Vampire und Werwölfe verließ. Icherios fühlte sich schuldig. Sollte er als Mensch nicht auf der Seite der Menschen stehen, anstatt Unruhe in ihre Reihen zu bringen? Das Leben im Dunklen Territorium war schwer genug. Sie waren zwar geschützt vor Hungersnöten, hatten aber andererseits mit einer ständigen Bedrohung ihres Lebens und ihrer Menschlichkeit zu kämpfen. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass der Blutdämon, von dem der Pfarrer sprach, sein Unwesen trieb. Trotz der Ereignisse der letzten Tage wollte Icherios die Existenz eines Dämons nicht in Betracht ziehen. Er war gekommen, um Morde aufzuklären und nicht, um Gespenster zu jagen. Dennoch war er nicht bereit, es zu einem Streit kommen zu lassen. »Alles Schlechte kommt von Außen«, murmelte er leise.
»Was haben Sie gesagt?« Kolchins schmale Augenbrauen hoben sich fragend.
»Ich musste an die Aussage des Meisters denken. Was hat es mit dem Tod Ihres Vaters auf sich?«
Kolchin ritt schweigend weiter. Icherios wollte schon nachfragen, weil er dachte, sein Begleiter hätte sie nicht gehört, da setzte dieser mit eingezogenen Schultern, als wenn er sich vor unsichtbaren Schlägen schützte, zu einer Antwort an. Plötzlich zügelte er sein Pferd und hob die Hand.
»Habt Ihr das auch gehört?«
Icherios fragte sich, ob es ein Ablenkungsmanöver war. »Nein.« Er trieb Achilles voran. Er beabsichtigte, nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, nur um auf ein vorgetäuschtes Geräusch zu warten. Da ertönte ein lautes Brüllen, und aus dem Dickicht über dem Hohlweg stürzte sich ein Bär herab, direkt vor die Füße der Pferde. Die Tiere scheuten. Icherios’ Wallach bäumte sich wiehernd auf und versuchte, sich auf den Hinterbeinen umzudrehen. Icherios war zu überrascht, um sich rechtzeitig festklammern zu können. Während er durch die Luft flog und der Boden rasch näher kam, dachte er noch, dass der Aufprall sehr schmerzhaft werden würde. Die Pein, die er verspürte, als er mit einem dumpfen Laut aufschlug und sich spitze Steine in seinen Rücken bohrten, übertraf seine Befürchtungen allerdings noch. Für einen Moment schien sich die Welt so sehr zu drehen, dass er sich eine Ohnmacht herbeisehnte, um den Schmerzen entfliehen zu können. Achilles’ Hufe trafen ihn am Knie, als das Pferd panisch davonrannte, und fügten seiner Sinfonie der Schmerzen einen neuen Akkord hinzu. Schwer atmend rollte er sich auf die Seite und beobachtete den Bären, während er versuchte, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Das Geschöpf war ein ausgewachsener Braunbär mit einer Schulterhöhe von guter Manneshöhe. Sein riesiger Kopf ruhte auf einem massigen Körper. Wie bei den Ghoulen leuchteten seine Augen in einem dämonischen Gelb. Das Fell hing in Fetzen vom Leib. Darunter stachen Sehnen und blanke Muskeln, die von Maden und Würmern durchsetzt waren, hervor. Aus dem Maul mit den langen, gewaltigen Zähnen lief dunkles Blut. Ein lautes Brüllen erklang aus der Kehle, in das sich ein hohes metallisches Kreischen mischte, als würden im Rachen des Bären zwei Eisenfeilen gegeneinandergerieben. Es bestand kein Zweifel, dass dieses Wesen ebenso wenig lebte wie die Ghoule auf dem Friedhof. Der Bär streckte den Kopf vor, die Lefzen in Gier gefletscht, und stürmte auf Icherios zu. Dem Gelehrten gelang es, sich im letzten Moment zur Seite zu werfen. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut, wo die Pranken nur knapp an ihm vorbeistrichen. Fauliger Gestank schlug ihm entgegen, der ihn würgen ließ. Doch der Bär hatte sich bereits wieder umgedreht und raste zu Icherios zurück. Laub wirbelte auf, wo seine Pranken sich in die Erde bohrten. Er zog eine dunkle Furche in den Boden. In dem Moment kam Kolchin auf ihn zugeritten, packte Icherios am Arm und zog ihn mit überraschender Kraft aufs Pferd.
Sie duckten sich zu zweit auf dem Pferderücken, um den herunterhängenden Ästen auszuweichen, und folgten dem Pfad in Richtung Köhlerei keuchend vor Anstrengung. Selbst wenn der Bär sie nicht erwischte, würden die
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