Alchemie der Unsterblichkeit
Irrlichter sie töten. Mit dem Ungetüm im Nacken war eine Umkehr unmöglich, und die Köhlerei würden sie erst lange nach Einbruch der Nacht erreichen.
Hinter ihnen erklang das frustrierte Brüllen des Bären. Er heftete sich an ihre Fersen, obwohl Fleck in ihrer Panik alle Kraftreserven ausschöpfte. Der Bär nahm weiter an Geschwindigkeit auf.
»Er kommt näher«, brüllte Icherios. »Wie kann ein Bär so schnell rennen?«
Kolchin antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Er war zu konzentriert darauf, seine Stute anzutreiben und einen sicheren Weg über den unebenen Boden zu finden. Plötzlich drehte er sich um, schlang einen Arm um Icherios und riss ihn mit sich vom Pferd. Gemeinsam fielen sie in ein dorniges Dickicht unter dem sich eine flache Mulde befand. Die Dornen zerrissen ihre Kleidung und gruben sich in ihr Fleisch, bevor sie auf einem weichen Moosbett landeten. Obwohl der Sturz diesmal sanfter verlief, flammte der Schmerz in Icherios’ Rücken heftig auf. Kaum lagen sie auf dem nassen Boden, bebte die Erde – und der Bär raste an ihnen vorbei. Sobald das Trommeln der Hufe und das Röhren des Ungetüms verklungen waren, zog Kolchin seinen Kumpanen hoch. »Wir müssen hier weg.« Der Flurhüter keuchte schwer. Icherios’ Knie schmerzten, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte, als er sich durch die kratzenden Ranken kämpfte. Einen Moment erwog er, sich einfach hinzulegen und zu hoffen, dass der Tod ihn schnell ereilen würde. Er war es müde zu kämpfen. Doch Kolchin ließ ihm keine Wahl. Wütend zerrte er an ihm.
»Los, weiter. In der Nähe ist eine Hütte, in der wir Schutz suchen können.«
Mühsam arbeiteten sie sich aus dem Dickicht heraus. Im schwindenden Tageslicht erkannte Icherios, dass sie sich am Fuß der Donnerkappe befanden. Ein schmaler Pfad führte den Hang hinauf. Icherios musste sich bereits nach wenigen Metern auf Kolchin stützen, um nicht einzuknicken. Er spürte ein warmes Rinnsal seinen Arm hinunterlaufen. Kolchin blutete aus einem tiefen Riss am Hals, der nur knapp die Halsschlagader verfehlt hatte.
Die Sonne stand als kleiner Halbmond über den Gipfeln der Berge. Icherios verfolgte, wie sie rasch dahinter versank. Der Weg endete an einer Einbuchtung im Fels, in der eine alte Eiche wuchs. In ihrem Schutz stand eine heruntergekommene Holzhütte, in die die Männer mit letzter Kraft hineinstürzten.
21
Die Zuflucht
G
Nach Atem ringend lagen die Beiden nebeneinander auf dem Boden. Mit jedem Herzschlag spürte Icherios die Schmerzen in seinen Knien und seinem Rücken deutlicher. Er drehte seinen Kopf zu Kolchin. Die Wunde an dessen Hals schien zwar nur oberflächlich zu sein, aber sie hörte nicht auf zu bluten.
»Hoffen wir, dass der Bär dem Pferd folgt und uns dabei vergisst.«
»Fleck war ein gutes Tier.«
Für einen Moment kehrte Stille ein. Regentropfen trommelten auf das Dach. Icherios lauschte angestrengt, ob er ein verräterisches Geräusch hören konnte, das die Ankunft der Bestie ankünden würde. Irgendwann hielt er die Spannung nicht mehr aus. »Was war das für ein Geschöpf? Eine weitere Besonderheit des Dunklen Territoriums?«
»Ich weiß es nicht. Die Alten berichten vom großen Urs, der die Wälder vor Jahren heimsuchte. Er fraß über ein Dutzend Menschen bevor ihn Jäger erlegten. Vielleicht ist er zurückgekehrt, um Rache zu nehmen.«
»Was auch immer es war, es lebte nicht mehr.« Icherios fröstelte in der Abendluft. »Wie kommen wir jetzt wieder zurück?«
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Nacht hier zu verbringen. Die Sonne ist untergegangen, und mit einem untoten Bären auf den Fersen und Wälder voller Irrlichter haben wir keine Chance, lebend nach Dornfelde zu gelangen.« Kolchin setzte sich auf und umschlang seine Beine mit den Armen. »Ich hoffe Eva sorgt sich nicht zu sehr.«
»Die Hütte bietet aber doch kaum Schutz.«
»Wir haben aber nichts Besseres.«
Icherios blickte zweifelnd durch ein Astloch in der Wand. Die ersten Sterne waren am Himmel erschienen, und ein einsames Käuzchen begrüßte die Nacht. Icherios beachtete die Schönheit der Natur nicht, sondern suchte nach einer Möglichkeit, den Schuppen zu befestigen oder einen anderen Zufluchtsort zu finden. Sie hatten jedoch keinerlei Werkzeug, und der Hang lag trostlos und in alle Richtungen ohne Deckung vor ihnen. Kolchin hatte recht. Sie mussten bleiben und darauf hoffen, so überleben zu können. Icherios wünschte sich wie nie zuvor, tatsächlich ein
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