Alchemie der Unsterblichkeit
mehr als hilfloser Zuschauer.
»Kindel!« Der Bürgermeister brüllte lauter als nötig. »Hat Er eine Karte der Festung und der Katakomben?«
»In der Bibliothek der Burg befindet sich eine,« wandte Sohon ein.
Kindel kam aus seiner Kammer heraus und zog aus einem dicken Papierstapel eine Karte hervor. »Hier ist der Eingang zu den Katakomben verzeichnet sowie die ersten Abzweigungen. Cunradt Antonidus Degers, der Zeichner, starb an einer Lungenentzündung kurz nachdem er mit der Kartierung begonnen hatte. Seither wagte es niemand mehr.« Kindel verzog verächtlich den Mund. »Angeblich hat ihn ein Fluch dahingerafft.«
»Danke, Kindel. Er kann jetzt gehen«, befahl der Bürgermeister.
Der junge Mann verneigte sich und verschwand in seiner Kammer. Icherios tat er leid. Er war intelligent und freundlich und verdiente die abfällige Behandlung durch den Bürgermeister nicht.
Es war früher Nachmittag, als sie sich vor dem Schlosstor trafen. Icherios hatte die Zeit genutzt, um das Lied niederzuschreiben und die Anweisungen herauszuarbeiten. Anschließend hatte er sich festes Schuhwerk und eine stabile Lederhose von Kolchin geliehen. Auf dem Rücken trug er einen Rucksack mit Proviant. Der Flurhüter führte zusätzlich mehrere dicke Seile mit sich. Der Fürst lauerte in seinen langen, schwarzen Mantel gehüllt wie ein dunkler Schatten im Hintergrund. Seinen Stab hielt er locker in der rechten Hand. Rabensang war in eine dünne Leinenhose und ein hellbraunes Hemd gekleidet, dessen Schnürung oben offen stand, sodass man seine stark behaarte Brust sehen konnte. Obwohl er Lederkleidung bevorzugte, war sie ihm zu teuer geworden, nachdem er sie mehrfach bei der Verwandlung zerrissen hatte.
Sohon führte sie in das Schloss hinein. Es war das erste Mal, dass Icherios die Feste von innen sah. Entgegen seinen Erwartungen war es ein warmes Gebäude mit glatt gefliestem Boden und dicken Wandteppichen. Von der Eingangshalle führte eine breite Treppe hinauf zu einer Empore, durch deren mannshohe Fenster helles Tageslicht hineinströmte. Niemals hätte Icherios darin die Heimat von Vampiren vermutet.
Der Fürst bemerkte sein Staunen. »Hatten Sie Särge und tropfende Kellergewölbe erwartet?«
Beschämt nickte Icherios. Alte Vorurteile waren nicht leicht abzuschütteln.
Sie folgten einem hohen Gang mit gewölbter Decke. An den Wänden hingen Bilder von Jagdgesellschaften, doch nicht wie man sie kennt. Die Jäger waren Vampire und das Wild flüchtende Menschen. Mehrere Abzweigungen und Türen weiter verschwand die Pracht und machte einfachen Steinwänden Platz. Es gab kaum Fenster, stattdessen spendeten Fackeln Licht. Sie befanden sich nun im Wirtschaftsbereich der Burg. In großen Fässern lagerten Weinbrand und Weine. Icherios fiel es immer noch schwer zu glauben, dass eine blutsaugende Kreatur Gefallen an alkoholischen Getränken fand.
Sohon blieb vor einer Holztür stehen und schob den Riegel beiseite. Mit Rabensangs Hilfe gelang es ihm, die klemmende Tür aufzuziehen. Der Fürst nahm eine Fackel aus einer Halterung, ging damit hinein und entzündete weitere Lichter in dem fensterlosen Raum. Die Decke war hoch, und eine kurze, breite Treppe führte zu einem schwarzen Eisentor hinunter, hinter dem die Dunkelheit lauerte.
»Der Eingang zu den Katakomben.« Sohon verbeugte sich schwungvoll wie ein Zirkusdirektor, der eine besondere Attraktion ankündigte.
Icherios begann sich zu fragen, ob es eine gute Idee war dort hinabzugehen, doch zum Umkehren war es zu spät. Der Fürst zog einen kunstvoll geschmiedeten Schlüssel hervor und öffnete das Tor. Mit einem für die Ohren schmerzhaften Quietschen schwang es auf. Rabensang ergriff ebenfalls eine Fackel und ging vorsichtig einige Schritte in den dahinterliegenden Gang. Bereits nach wenigen Metern endete der Weg. Schutt und herabgefallene Steinblöcke verhinderten ein Weiterkommen. Die Decke zu den darunterliegenden Gewölben war durchbrochen worden. Ein schwarzer Abgrund gähnte ihnen entgegen, in den eine morsche Holzleiter hinabführte. Der Werwolf warf seine Fackel in das Loch. Finsternis umschloss ihn und den jungen Gelehrten, als das Licht im Dunkeln verschwand, bis Sohon und Kolchin mit ihren Fackeln näher kamen. Endlich erklang das dumpfe Geräusch des Aufpralls, als die Fackel aufschlug und nach einem kurzen Aufleuchten erlosch. Icherios schätzte, dass der Boden dreißig Schritte unter ihnen lag. Dankbar beobachtete er, wie Sohon die Leiter zuerst
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