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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Kurs auf sie. Sie hatten nicht mal ihr SOS abgewartet. Die genaue Position der Cygnus war ihnen stündlich durchgegeben worden. Alle drei fuhren ebenfalls unter liberianischer Flagge. Im Auftrag der Flotte der Tex Oil, wie Abdul später erfuhr. Sie wurden wie Helden empfangen. Mit Ausnahme eines zwanzigjährigen Schiffsjungen, Lucio. Es war seine erste Fahrt. Er war in Panik geraten und ins Wasser gefallen. Die Winde hatten die Rettungsboote in die entgegengesetzte Richtung getrieben, und niemand hatte ihn wieder rausfischen können.
    Es war die Versicherungsgesellschaft selbst, die Abdul Aziz die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Er brauchte nur die Aussage des Kapitäns über den Schiffbruch der Cygnus zu bestätigen. Dafür bekam er eine ordentliche Prämie und die Beförderung. Prämien gab es ebenfalls für die Besatzungsmitglieder. Einige – das fand er später heraus – erlitten bereits ihren dritten Schiffbruch.
    »Eine Weigerung wäre dem Ausschluss aus der internationalen Handelsmarine gleichgekommen. Diese Praktiken schienen allgemein bekannt zu sein.«
    »Aber«, unterbrach Diamantis, »wie lässt sich erklären, dass es keinen Ölteppich gab, nichts?«
    »Die Versicherungsgesellschaft steckte doch mittendrin in der Mauschelei. Und ich will dir was sagen, Diamantis, in der Sache mit der Cygnus hat die Versicherung nicht nur für das Schiff bezahlt, sondern ist auch vollständig für die Ladung von iranischem Rohöl aufgekommen!«
    »Und du hast unterschrieben?«, fragte Diamantis ohne jegliche Bosheit.
    »Ich habe gekotzt, dann habe ich unterschrieben, dann habe ich weitergekotzt. Über einen Monat lang habe ich täglich gekotzt. Jeden Abend kam es mir wieder hoch.« Er sah Diamantis verzweifelt an. Wenn er daran dachte, wurde ihm heute immer noch schlecht. »Die Prämie hat Céphée und mir geholfen, uns in Dakar niederzulassen. Ziemlich komfortabel, verstehst du. Ich hätte vielleicht zehn Jahre gebraucht, um es so weit zu bringen. Und selbst dann, du weißt, wie das ist … Schwierig zu sparen.«
    »Und du bist Kapitän geworden.«
    »Und ich bin Kapitän geworden, ja. Unter derselben Flagge, für dieselbe Flotte. Doch sobald ich konnte, habe ich Tex Oil verlassen.«
    Diamantis erinnerte sich, dass einer der Männer – der Erste Maschinist – ihm gesagt hatte, als er das erste Mal unter Abdul fuhr: »Er ist ein guter Kapitän. Er manövriert und kommandiert mit viel Erfahrung. Er setzt der Mannschaft nicht zu und macht sich vor dem Reeder nicht in die Hose.« Aus diesem vorgetäuschten Schiffbruch hatte Abdul gelernt, sich zu behaupten. Er gehörte zu jenem Schlag, der das Schiff nicht verließ. Er zog es sogar vor, darauf zu vergammeln, wie hier in Marseille.
    »Ich will dir noch was sagen, Diamantis, alles, was ich danach tun konnte, hat diese Schweinerei nie ausgetilgt. Und unter Schweinerei verstehe ich auch das schmutzige Geld, das ich eingesteckt habe, meine Beförderung. Das Ganze eben. Es kommt immer ein Moment im Leben, wo man für die Fehler, die man gemacht hat, büßen muss.«
    »Man bezahlt nur, wenn man bezahlen will, Abdul. Das ist es, was ich glaube. Die ganze Erde ist voll von Leuten, von denen einer verkommener als der andere ist. Je höher du in der Hierarchie stehst, desto mehr Flecken hast du auf deiner Weste. Sieh mal, unser Reeder, dieser Mistkerl …«
    »Du verstehst nichts, Diamantis«, sagte Abdul und stand auf. »Du verstehst gar nichts!« Er war den Tränen nahe. »Céphée ist dabei, mich zu verlassen. Mein Leben bricht zusammen. Alles bricht zusammen, verdammt noch mal! Das büße ich hier! Auf diesem verdammten Schrotthaufen!«
    Er ging, ohne sein Bier auszutrinken. Mit hängenden Schultern, wie von einer zu schweren Last erdrückt. Das war nicht mehr derselbe Mann, der seiner Mannschaft gegenübergetreten war. Durch sein Arrangement für den Abgang der Männer hatte er den Schaden für jeden Einzelnen begrenzt. Er war an die Grenzen seiner Auffassung von einem guten Kapitän gegangen. Jetzt konnte die Aldebaran untergehen. Und er mit ihr. Aber Diamantis war geblieben. Und weder der eine noch der andere wusste bislang, ob das gut war. Für den einen wie für den anderen.
    Der Regen hatte aufgehört. Es war zehn nach fünf. Auf der Place de l’Opéra ging die Tür des Habana auf, und Nedim wurde von einem riesigen, muskelbepackten Schwarzen auf die Straße geworfen. Die Tür ging wieder zu.
     
    Nedim hatte nicht die Kraft, umzukehren und die Herausgabe seines

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