Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
runtergerutscht und gegen die Reling geknallt. Dort hat er sich mit aller Kraft festgekrallt. Stell dir vor, was für Sturzbäche von Wasser! Meer über dir, Meer unter dir. Zu den Ohren raus. ›Ich hab gebetet‹, hat er mir gestanden. Der Kapitän hat ihn schließlich gerettet.«
    »Das muss ihm endlich einen Dämpfer verpasst haben.«
    »Denkst du! Immer freiwillig, egal, bei welchem Wetter.«
    »Wirklich ein Verrückter.«
    »Nicht verrückt, nein. Ich glaube, das Meer hat ihn in Angst und Schrecken versetzt. Dass er vom ersten Tag an Bord an schreckliche Angst hatte. Also hat er sich hineingestürzt, um sie zu überwinden.«
    Abdul nahm nachdenklich einen Schluck Bier. Dann fuhr er fort: »So geht es uns im Leben. Da ist etwas, wovor wir fürchterliche Angst haben, und wir stürzen uns hinein. In die Angst, meine ich. Blindlings und mit aller Macht. Glaubst du nicht?«
    Diamantis antwortete nicht.
    »Hast du ihn mal wieder gesehen?«
    »Fünf oder sechs Jahre später. Ich bin ihm in Dakar zufällig wieder begegnet. Er gab seine Geschichte in einer Hafenspelunke zum Besten. Er spielte seine Erlebnisse herunter. ›Klar, Leute, so wie ich gesagt habe. Ich war zwölf Meter unter Wasser. Die Welle hat sich auf dem Deck gebrochen. Zu meinen Füßen. Den Mast vom Radargerät hat sie weggefegt. Aber, das könnt ihr mir glauben, es war eigentlich gar nicht so schlimm, da können wir noch ganz andere Stürme vertragen!‹«
    »Fährt er immer noch zur See?«
    »Er ist jetzt auf Rente, in der Nähe von Galway. Er bebaut sein kleines Stück Land, und, lach nicht, er hat nie mehr einen Fuß auf ein Schiff gesetzt. Nicht mal auf einen Kutter!«
    Sie schwiegen und tranken eine lange Weile wortlos. Der Regen hämmerte weiter aufs Deck. Ab und zu knallte der Donner, immer noch mit der gleichen Wucht. Das Gewitter vereinte sie. Wie ein Sturm auf See die Besatzung zusammenschweißt. Kein Seemann erzählt seiner Familie jemals von diesen Momenten. Weder im Brief noch beim Landgang zu Hause. Um nicht zu beunruhigen. Und wie könnte er das alles in Worte fassen. Unwetter existieren nicht. Genauso wenig wie die Seeleute, wenn sie erst mal auf See sind. Die einzige Realität der Menschen ist die Erde. Außerdem kennen und treffen wir Seeleute nur an Land. Wenn wir nicht eines Tages auf einem Frachter anheuern.
    Diamantis erinnerte sich, dass ihn einige Monate nach dem Untergang der Stella Maris ein Kommentar in den Fernsehnachrichten aufhorchen ließ. Man sah Bilder von Schäden, die ein Unwetter in England angerichtet hatte. Es hatte sechs Tote gegeben. »Aber«, hatte der Journalist versichert, »alle Gefahr ist abgewendet. Der Sturm hat die Küstengebiete verlassen und verliert sich über dem Meer.«
    Über dem Meer, fern aller Küsten – tausende von Menschen sind dort, aber sie existieren nicht. Nicht einmal für die Frauen der Seeleute. Erst bei seiner Rückkehr nimmt der Ehemann wieder Gestalt an. In ihrem Bett. Diamantis sah auf. »Und du, hast du auch schon mal Schiss gehabt?«
    Ja, natürlich hatte Abdul Aziz Unwetter erlebt. Aber was ihm dazu einfiel, hatte mit Schiss nichts zu tun. Eher mit Scham. Die Erinnerung an einen Schiffbruch, für den nicht die Natur verantwortlich war. Allein die Habgier der Menschen. Eine zwanzig Jahre alte Erinnerung.
    Er war damals noch Erster Offizier. Auf der Cygnus, einem Tanker, der unter liberianischer Flagge fuhr. Zu einer Zeit, in der Südafrika unter internationalem Embargo stand und schwer unter Benzinmangel litt. Die Cygnus, randvoll mit iranischem Rohöl, hatte über Nacht in Port Elisabeth entladen. Dann war sie wieder ausgelaufen. Am Kap der Guten Hoffnung hatten sie mit starken Winden, Seegang oder sogar einem leichten Sturm gerechnet, nicht ohne vorher die Trinkwassertanks aufzufüllen.
    Am sechsten Tag bekamen sie, was der Kapitän gesucht hatte. Ein Schlingern von zwanzig Grad. Ein schwaches Schlingern für ein solches Schiff. Die Cygnus war für die Hochseeschifffahrt und ungünstige Witterungsverhältnisse gebaut worden. Der Kapitän ordnete an, mit offenen Luken zu fahren und später, bei Tagesanbruch, die Ventile zu öffnen. Die Mannschaft wurde aufgefordert, die Koffer zu packen. Die Rettungsboote wurden herabgelassen, und die Besatzung stieg ein, nachdem sie einige Notsignale gefunkt hatte.
    Die Cygnus sank majestätisch. Sie weigerte sich fast. »Schade«. Das war der einzige Kommentar, den der Kapitän sich gönnte. Sie trieben nicht lange herum. Drei Schiffe nahmen

Weitere Kostenlose Bücher