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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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warum, aber jedes Mal, wenn er in Marseille an Land ging, hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen. Er liebte den Geruch von Marseille. Diese Stadt roch. Vielleicht nicht nach Piment, wie Blaise Cendrars es beschrieben hatte, aber so ähnlich, nach etwas zwischen Basilikum und Koriander. Mit einer Prise Pfeffer und Zimt.
    Kaum am Kai, erwartete ihn ein besonderer Glücksfall. Die D’Artagnan, das Schiff unter dem Kommando seines Vaters, hatte neben dem seinen an Mole E im Bassin de la Pinède festgemacht. Seit drei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Wenn er in Athen war, war sein Vater auf See, und umgekehrt, und wenn sie beide unterwegs waren, lagen mehrere Wochen zwischen ihren jeweiligen Landgängen.
    Am Kontrollposten erhielt er eine Nachricht von seinem Vater. Er bat ihn, ins Cintra zu kommen. Dort bestellte er eine Mauresque und blieb an der Theke stehen, bis ein Tisch frei wurde. Er versuchte, Aminas Blick wieder einzufangen. Sie wirkte zurückhaltender als die anderen in der Gruppe. Aber vielleicht kam das daher, dass sie sich beobachtet fühlte. Plötzlich blickte sie offen zu ihm auf, betrachtete ihn und lächelte. In dem Moment hatte sein Vater einen Arm um seine Schulter gelegt. Er drehte sich zu ihm um, ohne Aminas Lächeln zu erwidern.
    Die Mahlzeit mit seinem Vater verlief nicht so, wie er gehofft hatte. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es nicht. Ein Wunder zweifellos. Dieser Mann, von dem er so viel gelernt hatte, der ihm das Meer und das Reisen schmackhaft gemacht hatte, dieser Mann, an dessen Kleidern er geschnüffelt hatte in der Hoffnung, dort den Geruch Afrikas oder Asiens zu entdecken – Kontinente, von denen er träumte –, dieser Mann existierte nicht. Er war nicht mehr sein Vater, sondern ein Mythos. Eine Art Odysseus, der Homer für ihn in die Sprache der Frachter übersetzte. Sie hatten zu viel gemeinsam, um sich noch etwas zu sagen zu haben. So sprachen sie wenig. Vor dem Rathaus trennten sie sich, nachdem sie mit der Fähre einmal quer durch den Alten Hafen gefahren waren. Die D’Artagnan lief noch am selben Abend aus.
    »Das mache ich jedes Mal, wenn ich nach Marseille komme, diese Überfahrt. Ein Ritual. So was habe ich noch nirgendwo gesehen … So eine riesige Stadt, die sich in wenigen Minuten Überfahrt total offenbart … Schau, wie schön das ist.«
    Diamantis hatte gelächelt. Auch er nahm die Fähre gern.
    Heute Morgen, nach einem Kaffee mit Toinou, hatte er seinen Tag so begonnen. Auf der Fähre. Eine Zigarette im Mundwinkel, den Blick auf die Hafeneinfahrt gerichtet, hatte er sich von der Erinnerung an jenen Tag durchfluten lassen. Aminas Lächeln hatte in all der Zeit, bei all dem Durchlebten, nicht eine Falte bekommen.
     
    Die Tür öffnete sich vor einem Mann in den Sechzigern. Masetto. Der Archetyp des Süditalieners. Klein, etwas dünn, aber nervös, lockige Haare und ein dunkler Teint. Diamantis hatte ihn nie kennen gelernt, war ihm nur einmal auf der Straße begegnet. Das war in der Rue d’Aubagne. Ein Zufall. Amina und Diamantis kamen aus einer Pizzeria. Masetto hatte die Straßenseite gewechselt, um nicht mit ihnen sprechen zu müssen. Er war kein mutiger Mann. Und bestimmt nicht der Beste aller Väter, dem Wenigen nach zu urteilen, das Amina ihm anvertraut hatte.
    Diamantis stellte sich nicht vor. Er sagte nur: »Ich suche Amina. Ich wüsste gern, wo ich sie finden kann.«
    »Wer sind Sie?«, fragte er.
    Das Gesicht von Diamantis sagte ihm gar nichts.
    »Ein Freund.«
    »Ich kenne ihre Freunde nicht. Und ich habe nichts mit ihnen zu tun.«
    Masetto wollte die Tür wieder schließen, aber Diamantis schob einen Fuß dazwischen. Wenn er nicht nachhakte, verlor er jede Hoffnung, Amina wieder zu finden. Ihr Vater war seine einzige Spur. Er hatte Glück, dass er in zwanzig Jahren nicht umgezogen war. »Bei uns wird nicht viel umgezogen«, meinte Toinou, als Diamantis sich daranmachte, das Telefonbuch durchzusehen. »Nur, wenn es unbedingt sein muss. Von daher, verstehst du, hast du gute Chancen, deinen Mann dort wieder anzutreffen, wo du ihn verlassen hast.«
    Diamantis war zu Fuß vom Kai Rive-Neuve bis zur Place Saint-Eugène im alten Endoume-Viertel gegangen. Und dann zu einem Hügel oberhalb der Malmousque-Bucht. Das war ein mühseliger Aufstieg, aber es tat ihm ausgesprochen gut, sich die Beine zu vertreten. Wenn er eine Stadt liebte, musste er sie in alle Richtungen durchlaufen. Die wahren Städte, solche, die eine Geschichte zu erzählen haben,

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