Aldebaran
hingegeben, das sie beide letzte Nacht erfunden hatten. Nur für sich.
»Wie sagt man ›mein Liebster‹ auf Griechisch?«
»Agapi mou. «
»Agapi mou« ,hatte sie langsam wiederholt, wie, um sich die Wörter auf der Zunge zergehen zu lassen. »Agapi mou.«
Amina.
Glück.
Die Hitze erweckte Diamantis zum Leben. Schweiß rann ihm den Hals herunter. Das Hemd klebte ihm auf der Haut. Das Licht brannte erbarmungslos, dachte er.
Er zündete sich eine Zigarette an und ging die Rue d’Endoume hinunter, Richtung Meer. Entschlossen, aber zögernden Schrittes. Er war verunsichert.
Im ersten Bistro an der Straße kehrte er ein und ließ sich einen Pastis bringen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Dinge so laufen würden. Wie sie hätten laufen können, war ihm schleierhaft. Aber nicht so. In seiner Vorstellung war Amina verheiratet gewesen, Familienmutter vielleicht. Glücklich. Es war nicht seine Absicht gewesen, ihr Leben durcheinander zu bringen. Er wollte einfach nur, dass sie ihm verzieh, dass er sie durch sein Verschwinden verletzt hatte. Jetzt war alles anders. Er musste unbedingt den Fehler wieder gutmachen, den er begangen hatte.
10 Das einfache Glück, das vom Himmel auf das Meer hinabsteigt
Das Licht lähmte die Stadt. Ein grelles Licht, fast grausam. Es drang in die dunklen, kühlen Straßen und Avenuen ein, in die schattigen Plätze und Kaffeeterrassen. Zu dieser Stunde wurden die Fensterläden zugezogen, um etwas Kühle zu bewahren. Abdul Aziz war bis zu diesem Moment herumgelaufen.
Stundenlang. Als ob das ziellose Laufen ihm helfen könnte, seinen Kopf von all den wirren, widersprüchlichen Gedanken zu befreien, die dort miteinander stritten. Die Bewegung tat ihm gut. Das war ihm seit langem nicht mehr passiert. Es zog in den Waden und im Bauch bis hin zu den Schultern. Er hätte glücklich sein können wie jeder andere, als er sich so durch Marseille treiben ließ, wäre da nicht in seinem Innern so viel Trauer gewesen, so viel Groll, Sorge und Wut. Er war vor dem Eingang zum Garten des Pharo gelandet. Er lächelte. Man konnte diese Stadt in allen Richtungen durchqueren, nie verlief man sich.
Er stieg eine der Alleen hinauf. Oben auf der Anhöhe umrundete er den ehemaligen Palast der Kaiserin Josephine. Er wusste nicht, wozu das Gebäude heute diente. Ehrlich gesagt war es ihm völlig egal. Er war wegen der Aussicht auf den Hafen und die Stadt hergekommen.
Er stieg wieder ein paar Meter hinunter, dann setzte er sich im Schatten eines massiven Lorbeerbaums ins Gras und ließ sich von der duftgeschwängerten Hitze der Luft durchfluten.
Vor ihm lag das Fort Saint-Jean, die ehemalige Komturei des Ritterordens vom heiligen Johannes zu Jerusalem. Das Licht schien sich das Rosa seiner Steine schmecken zu lassen, es leckte an den kleinsten Unebenheiten mit der gleichen Lust und Leidenschaft wie an einem Himbeereis.
Unter ihm lag die damals strategische, schmale Hafeneinfahrt, durch die man in den Alten Hafen gelangt. Kaum hindurch, nahmen die Segelschiffe volle Fahrt auf die Reede. Mit den Augen folgte er einer der Fähren, die leer von den Frioul-Inseln und dem Château d’If zurückkehrten. Sie würde am Kai anlegen, vor der Canebière, die er kaum erkennen konnte.
Sein Blick schweifte vom Fort Saint-Jean leicht nach links zur Cathédrale de la Major, fälschlich als byzantinisch bezeichnet, bombastisch, grau und schwer, umgeben von so unwirklichen wie hässlichen Verkehrsadern. Dahinter erstreckte sich der Hafen vom Bassin de la Joliette bis nach L’Estaque. Seine Kräne und Gerüste schienen sich am Himmel festzuklammern. Es tat sich nicht viel. Als wenn die Hitze jede Bewegung im Keim erstickt hätte.
Weit, ganz hinten, außerhalb seines Blickfeldes und vergessen am Ende der Kais, war die Aldebaran Opfer dieser Starre. Aber das war nicht mehr wichtig. Von hier erschien ihm plötzlich alles belanglos. Er gab sich träge seinen Gedanken hin, ohne auch nur zu versuchen, sie in seinem Geiste in Worte zu fassen.
Er holte ein mitgebrachtes Sandwich mit Tomaten, Tunfisch und Oliven hervor und begann zu essen, wobei er darauf achtete, dass ihm das Öl nicht über die Finger lief. Kauend ließ er sich von dem einfachen, unbegreiflichen Glück durchfluten, das vom Himmel auf das Meer hinabsteigt. Céphée reicht ihm die Hand. Sie haben gerade geheiratet. Sie spazieren schweigend über die Ruinen von Byblos.
»Wenn ich eine Geschichte habe, verstehst du, dann beginnt sie da. In diesen Ruinen.
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