Aldebaran
stand er früh auf und kümmerte sich um die Kinder. Er brachte sie zur französischen Schule, danach begleitete er Céphée ins Krankenhaus. Seit zwei Jahren war sie dort Chefärztin auf der Kinderstation. Abends machte er den gleichen Weg andersherum. Ein ruhiges Leben, glückliche Tage. Sie hatten nie wieder über jene Nacht gesprochen. Nicht einmal, als er ankündigte, dass er in einer Woche abreisen würde.
»Nur für etwa zwanzig Tage«, rechtfertigte er sich. »Nur um Constantin Takis einen Gefallen zu tun. Weißt du noch? Das bin ich ihm schuldig.«
Sie erinnerte sich an Constantin Takis. Im September 1983, als die israelischen Soldaten sich aus dem Libanon zurückzogen, hatten drusische Milizen, unterstützt von palästinensischen Freischärlern, den Libanon in Schutt und Asche gelegt. Massaker unter der Bevölkerung, geplünderte Häuser, zerstörte Dörfer. Abduls ganze Familie war geflohen, wie zwei Drittel der christlichen Bevölkerung aus dem Chouf. Sein Vater und seine Mutter, in Angst und Schrecken und ohne Geld, hatten Zuflucht in einem Appartement in Ost-Beirut fünfzig Meter von der Demarkationslinie entfernt gefunden, das von anderen Christen verlassen worden war. Sein Vater hatte ihn angerufen. Damit Abdul ihnen bei der Flucht helfen sollte.
Takis lenkte einen seiner Frachter nach Beirut um. Er nahm die ganze Familie an Bord. Richtung Limassol, wo er Abduls Eltern auf seine Kosten in einem Hotel unterbrachte, bis sie weitersehen würden.
Damals schlecht angesehen, hatte der Reeder es zweckdienlich gefunden, sich mit Kapitänen von vorbildlichem Leumund zu umgeben. Abdul Aziz war einer von ihnen. Er konnte diesen »kleinen Dienst« nicht ablehnen. Sein Name würde den Kunden Vertrauen einflößen. Den Mannschaften auch. Sogar Diamantis hatte sich täuschen lassen.
Erst als er in La Spezia ankam, ging Abdul auf, dass für Céphée nichts wie früher war. Ein Brief wartete auf ihn. »Als du das Schlafzimmer verlassen hast, dachte ich, du würdest wiederkommen und mit mir sprechen …«
Er war auf der Terrasse geblieben. Trinkend und rauchend. Dort hatte er seinen Geist schweifen lassen. Weit fort von diesem Haus. Von den Kindern. Von Céphée. Auf Wiederentdeckung vergangener Reisen. Auf Wiederbelebung vergänglicher Lieben. Ein anderes Leben. Sein Leben. Sein wahres Leben, hatte er bis dahin gedacht. »Da du unfähig bist, ein anderes Leben in Betracht zu ziehen, werde ich es tun«, fuhr sie in ihrem Brief fort. »Abdul, ich liebe dich, aber ich glaube, ich werde dich verlassen. Weil unsere Liebe das Ganze nicht überleben wird. Eine Ohrfeige war schon zu viel. Eine zweite würde ich nicht ertragen …«
Abdul stand auf und bezahlte seine beiden Kaffee. Er brauchte einen Spaziergang. Um sich in der Stadt zu zerstreuen. Marseille, das wusste er, war die einzige Stadt in der Welt, in der man sich nicht als Fremder fühlte. Niemand war dort ein Fremder. Wo er auch herkam, egal welcher Hautfarbe. In Marseille war man immer einheimisch. Das sagte der Blick der Leute. Ein einmaliges Gefühl von Weltoffenheit.
Abdul ging ein Stück die Canebière hinauf, nahm dann hinter dem Cours Saint-Louis die Rue des Feuillants und gelangte schließlich in die schmale Rue Longue-des-Capucins. Dort tauchte er in die bunte, dichte Menge ein, die ihre Einkäufe erledigte. Die Marktstände verströmten die Wohlgerüche der ganzen Welt. Da waren Barcelona und Schanghai, Rom und Bombay, Algier und Valparaiso.
Endlich war er so weit, die Zukunft ins Auge zu fassen.
»In der Zukunft«, hatte der Wahrsager Diouf, ein alter Onkel von Céphée, gesagt, »existiert alles, weil alles möglich ist.« Vielleicht war ja wirklich noch alles möglich.
9 Gegen Zynismus ist keiner gefeit
Aus dieser Zeit war Diamantis nur eines im Gedächtnis geblieben. Er war über beide Ohren verliebt. Als er Amina kennen lernte, schien sie direkt den Märchen von Tausendundeiner Nacht entstiegen zu sein. Sicher hatte sie in seiner Seemannsfantasie schon lange sein Bett gemacht. Tatsache ist, dass er sie wieder erkannte, als kenne er sie bereits. Sie aß mit einigen Bekannten im Cintra zu Mittag, einer Brasserie am Alten Hafen, die es heute nicht mehr gibt. Ihre Blicke begegneten sich, als Diamantis eintrat, um sich sogleich wieder zu verlieren.
Die Stainless Glory, auf der er damals fuhr, hatte in Marseille Station gemacht. Für ihn war es immer ein atemberaubendes Erlebnis, in den Marseiller Hafen einzulaufen. Er konnte nicht sagen,
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