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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Geschichte.«
    Nedim bestand nicht weiter darauf.

18 Ein Wort ist manchmal leider ein Wort
    Abdul Aziz verließ das Bijou-Hotel trauriger, als er hineingegangen war. Noch ratloser. Langsam, aber sicher kam er zu der Gewissheit, dass er den Kredit seines Lebens vollständig ausgeschöpft hatte. Von heute an war er nur noch ein Verlierer. Dieses Mädchen, Stella – sie hatte sich Stella genannt –, hatte das gespürt.
    »Du warst in Gedanken nicht bei mir, oder?«, hatte sie ihn hinterher bei einer Zigarette gefragt. Sie lag nackt auf dem Rücken ausgestreckt. Lasziv. Ihren linken Unterarm unter dem Kopf angewinkelt. Die Beine leicht gespreizt. Ohne Scham.
    »Nein«, gab er zu.
    »Du hast irgendwo eine Frau, stimmts?«
    Er brummte nur nachdenklich.
    Aber es war nicht Céphée, an die er gedacht hatte, während er mit Stella Liebe machte, sondern an sich selbst. Sein vermasseltes Leben. Es hatte ihm immer an Mut gefehlt. Nicht in seinem beruflichen Leben, das nicht. Er hielt sich für einen guten Kapitän. Keine der Besatzungen unter seinem Kommando konnte das Gegenteil behaupten. Er bemühte sich redlich, seine Befehle nach Vorschrift zu geben, und davon wich er nicht ab. Auch nicht, was ihn selbst betraf. Erst wenn er von Bord ging. Die Gesetze des Alltags auf See waren anders als an Land. Und er verlor sich zwischen den beiden.
    Aber er wusste: Die Regeln waren die gleichen, an Land wie auf dem Meer. Für alle Menschen, ohne Unterschied. Regeln waren eine Form, die Menschen zu regieren. Der Mensch war nicht für das Gesetz gemacht. Er musste sich ihm beugen. Und in der sozialen Hierarchie galt das Anordnen mehr als das Unterordnen.
    So war er von seinem Vater erzogen worden. Zu dieser Unnachgiebigkeit, die alle Gefühle verbannt. Zugunsten der guten Manieren. Der kriecherischen Korrektheit. Und dieser Frechheit, die anderen einfach als Untergebene zu betrachten. So ging er mit der Welt um. Realistisch. Effizient.
    Constantin Takis war vom selben Schlag wie er. Sie hatten über die Evakuierung seiner Familie aus Beirut verhandelt, ohne auch nur für einen Moment das Drama der Menschen, einer Nation und der Volksgemeinschaften dieser Nation zu streifen. Es war nur eine Angelegenheit, die sie unter anständigen Leuten regelten. Und Constantin Takis’ Frachter nahm genau die vier Personen auf, die vereinbart waren. Seinen Vater und seine Mutter, eine Tante und einen Onkel. Was ihm an Familie geblieben war. Aber unerwartet brachte sein Vater in der Freude, fliehen zu können, die Familie Rafic mit an den Kai. Kleine Bauern vom Nachbargrundstück. Seine Eltern verdankten den Rafics ihre Flucht aus dem Chouf. Der Kapitän des Frachters, ein gewisser Calvin, den Abdul nicht kannte, weigerte sich, sie mitzunehmen. Abdul Aziz hatte den Preis so weit wie möglich gedrückt, das gehörte zum Geschäft.
    Als er seinen Vater ein paar Wochen später anrief, erfuhr er, dass die Familie Rafic bei einem Bombenangriff in einem Keller in Ost-Beirut ums Leben gekommen war. Sein Vater machte ihn für den Tod dieser Menschen verantwortlich. »Ohne sie wären wir nicht hier, lebend in Limassol.« Er bezichtigte Abdul der Niederträchtigkeit. »Welch ein Mangel an Menschlichkeit. So habe ich dich nicht erzogen, mein Sohn.« Sein Vater sprach nicht mehr mit ihm und verweigerte ihm noch auf dem Sterbebett seine Vergebung.
    Abdul hatte schrecklich darunter gelitten. Es war ihm gelungen, seine Familie zu retten. Seine Mutter und seinen Vater zu retten. Es herrschte Krieg. Musste er auch die gesamte Menschheit retten? Warum wollte sein Vater das nicht verstehen? Dass er das Wesentliche vollbracht hatte.
    »Sicher«, hatte Céphée gesagt, »aber du hast nicht an die anderen gedacht …«
    In jener Zeit war Céphée ihm eine Hilfe gewesen. Sie sah das Leben ganz anders als er. Sie nahm die Ereignisse so, wie sie kamen, mit Fatalismus. Letztendlich blieb nur die Freude am Leben, hier und jetzt. Eine afrikanische Tugend, hatte er oft gedacht. Ihm war aufgefallen, dass Diamantis in manchen Aspekten genauso veranlagt war.
    Céphée hatte ihm schon einmal geholfen, vor zehn Jahren, bei der Affäre mit der Cygnus. Es stimmte, was er Diamantis neulich Nacht erzählt hatte: dass ihn der Handel nach dem von der Tex Oil organisierten Schiffbruch zutiefst anwiderte. Auch da hatte es ihm an Mut gefehlt. Er hatte die Regel der Ausnahme vorgezogen. Das Verschweigen der Wahrheit. Er erinnerte sich an den Brief, den die Eltern von Lucio ihm geschrieben

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