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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Whisky. Er bewegte den Kopf in Diamantis’ Richtung, blieb jedoch sitzen. Er wirkte älter, als Diamantis ihn sich vorgestellt hatte. Offenbar war er völlig fertig.
    »Kommen Sie rein.«
    »Wo ist sie? Wo ist Amina?«
    »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er. »Setzen Sie sich.«
    »Ich stehe lieber.«
    Plötzlich wurde Diamantis klar, dass Ricardos Männer sich auf ihn stürzen konnten, ihn mit Schlägen traktieren, ihm einen Revolverlauf in den Mund stecken, ihn töten konnten. Er erstarrte am ganzen Körper. Alle seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Er sah sich um.
    »Sie brauchen nichts zu befürchten«, sagte Ricardo. »Setzen Sie sich.«
    »Ihnen traue ich alles zu.«
    »Ja … All das …«, sagte er wegwerfend und deutete mit ausladender Geste in den Raum vor ihm.
    »Das Schlimmste«, fuhr Ricardo fort, »kommt immer anders, als man denkt.«
    Diamantis trat der Schweiß auf die Schläfen. Dieser Mann jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken. »Wo ist sie?«, fragte er erneut.
    »Da oben.«
    Diamantis kehrte Ricardo den Rücken und wandte sich nach oben.
    »Kommen Sie zurück!«, befahl Ricardo.
    Diamantis drehte sich um. Ricardo war aufgestanden und hielt eine Pistole mit ungewöhnlich langem Lauf auf ihn gerichtet. Ein Schalldämpfer, erkannte Diamantis.
    »Schenken Sie sich etwas ein und setzen Sie sich.«
    »Ich habe keinen Durst.«
    »Wie Sie wollen.« Er zeigte mit dem Pistolenlauf auf einen Sessel. Eines von diesen weichen Dingern, die Diamantis hasste. Widerwillig ließ er sich darin nieder.
    Ricardo setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl. »Ich werde Ihnen berichten«, begann er.
    Und er berichtete bis ins kleinste Detail. Aminas Leben. Seins. Und Lallas.
    »Sie ist Ihre Tochter. Wussten Sie das?«
    Diamantis zuckte nicht mit der Wimper. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Nedims Bemerkung auf der Terrasse der Bar hatte er immer wieder mit dieser Vermutung gespielt, um sie jedes Mal wieder zu verwerfen. Er hatte wieder und wieder nachgerechnet, Lalla nach ihrem Alter gefragt. Er hatte zugegeben, dass es sein konnte. Aber er wollte es einfach nicht wahrhaben.
    »Nein«, stammelte er, »nein. Kann ich mir doch etwas einschenken?«
    »Wie Sie wollen«, wiederholte Ricardo.
    Diamantis goss sich großzügig ein. Er mochte den Whiskygeruch nicht. Aber er brauchte eine Stärkung. Er hatte zurückkehren wollen, seine Vergangenheit in Ordnung bringen. Jetzt war er angelangt. Aber es war zunächst nicht die Vergangenheit, die ihm übel aufstieß, sondern die Gegenwart. Lalla, seine Tochter. Dieses Mädchen, das er unter anderen Umständen – warum nicht – hätte verführen und vernaschen können. Wie Nedim es zweifellos vorhatte.
    Er sah sie beide wieder vor sich, auf dem Deck der Aldebaran aneinander gelehnt. Gleichzeitig sah er Abduls Blicke auf Lalla und bekam eine Gänsehaut. Er musste dorthin zurück, und zwar schnell.
    Er setzte sich nicht wieder.
    »Sie weiß natürlich nichts davon«, mutmaßte Diamantis.
    »Amina wollte es Ihnen heute Abend sagen. Und es Lalla ebenfalls gestehen. Sie wollte mit allem Schluss machen, mit dem Habana, mit diesem Leben. Fortgehen wollte sie, mit Lalla natürlich. Auch mich verlassen …«
    Diamantis hörte Ricardo nicht mehr zu. Er hörte überhaupt nichts mehr. Er war erstarrt, als Ricardo von Amina in der Vergangenheit gesprochen hatte, und unter der Schweißschicht auf seinem Körper wurde ihm kalt. Er wollte nach oben laufen. Amina sehen. Sein Magen hatte sich zusammengezogen. Und das hatte nichts mit dem Whisky zu tun.
    »Sie können das nicht verstehen. Ich habe sie gebraucht. Meine Uhr ist abgelaufen. Ich habe sie jetzt gebraucht. Jetzt. Aber sie wollte nichts davon hören. Sie sind siegessicher und mit Ihren Schuldgefühlen im Mas aufgetaucht … Woher wussten Sie, dass sie im Habana arbeitete?«
    Diamantis antwortete nicht. Das hatte alles keinen Sinn mehr.
    »Ich habe sie geliebt, Diamantis.«
    Sie schauten sich an. Vor Ricardos Blick verschwamm alles. Die Tränen kamen. Er warf seine Waffe auf den Sessel.
    »Ich habe sie getötet. Sie ist dort oben.«
     
    Amina lag auf dem Boden. Das Blut um sie herum war bereits schwarz geworden. Sie starrte Diamantis aus leeren Augen an. Er machte einen Schritt und kniete neben ihr nieder. Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Amina lächelte ihn an. Das war vor zwanzig Jahren. Sie war nackt, und Diamantis, über ihr, ließ seine Hand über ihren Körper

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