Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
ihrer regungslosen Umarmung. Alejandro hatte das Gefühl, in die Intimsphäre der ehrwürdigen Bäume einzudringen, als er den Weg zwischen ihnen betrat.
Gleich nachdem sie in den dichten Wald geritten waren, merkten sie, daß hier alles anders war. Schon die Luft unterschied sich von der, die sie auf der Wiese geatmet hatten; sie war warm und süß, obwohl es unter den Bäumen eigentlich hätte kühl sein müssen. Man hörte kein anderes Geräusch als die Hufe der Pferde auf dem Boden, keine surrenden Insekten, keine quakenden Frösche, keine menschlichen Stimmen.
Alejandro sah sich verwundert um und sagte zu Adele: »Ich fange an zu verstehen, warum du es für das beste hieltest, das Kind zurückzulassen. Ich fühle mich fast verzaubert von diesem Ort ... hier ist wirklich etwas Unnatürliches gegenwärtig.«
Der Wald endete so plötzlich, daß sie ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht abschirmen mußten. Alejandro erinnerte sich nicht an Einzelheiten des Weges hinter dem Tor, das die Eichen bildete, aber er wußte, daß sie ihn ganz zurückgelegt hatten. Er hatte keine Ahnung, wie lange das gedauert hatte; waren es nur Augenblicke gewesen? Er konnte sich nicht erinnern . Zu sehr hatte ihn der geheimnisvolle Ort verzaubert.
Doch Adele war längst nicht so hingerissen von dem Ort wie ihr Gefährte. Sie hätte Alejandro am liebsten zugerufen, sie müßten umkehren und davonreiten, aber sie hatte völlig die Sprache verloren. Auf dem Pfad durch den Wald hatte sie das Gefühl gehabt, als ziehe irgendeine winkende Hand ihr Pferd förmlich zwischen den Bäumen hindurch zu der hellen Lichtung, und sie hatte protestieren wollen, aber aus unerklärlichen Gründen war sie plötzlich stumm und konnte nicht den leisesten Laut ausstoßen.
Wie unter einem Bann starrten Adele und Alejandro einander verwundert an. Mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen saßen sie ab und gingen auf die steinerne Kate zu. Bald standen sie auf einem steingepflasterten Weg, der an der Tür des Hauses begann und direkt zu der warmen gelben Quelle führte; sie sahen die Wärme, die von dem lauen Wasser aufstieg, und waren wie gebannt von dem goldenen Schein des Sonnenlichts, das auf der glatten Oberfläche tanzte. Ein feuchter, berauschender Geruch durchzog die warme Luft, und obwohl er alles andere als angenehm war, fühlte Alejandro sich getrieben, ihn tief einzuatmen, wieder und wieder; je mehr er von dem flüchtigen Aroma einatmete, desto mehr wollte er. Es war süß und schwer und roch nach lebenden Dingen, nach sterbenden Dingen, die verrotteten, nach Feuchtigkeit, Nässe und Leben.
Als er endlich seine Stimme wiederfand, sagte er zu Adele: »Wenn dies ein Übel ist, dann möge es mich für immer heimsuchen. Ich bin wie verzaubert von diesem Ort.«
Da durchbrach eine träumerische Stimme den stillen Dunst. »Willkommen in meinem Heim, verehrter Arzt und edle Lady.«
Scheinbar aus dem Nirgendwo erschien vor ih- nen eine alte Frau, der sie beide eine so bezaubernde Stimme nicht zugetraut hätten. Sie sprach weiter, und ihre Worte wirkten wie die einer Mutter, die ihr Kind beruhigt. »Ich hatte Euch erwartet«, sagte sie, »aber ich wußte nicht, wann Ihr kommen würdet.«
Alejandros logischer Geist, der die Oberhand behalten wollte, sagte ihm, daß in der realen Welt ein solches Vorwissen nicht möglich sei. Doch die friedliche Stille, die üppigen, fruchtbaren Gerüche, die seltsam beruhigende Präsenz der alten Frau - all das zusammen vermittelte ihm ein Gefühl innerer Heiterkeit und Gelassenheit, wie er es seit der Geborgenheit seiner Kindheit in Spanien nicht mehr empfunden hatte, und er überließ sich ihm. An diesem ruhigen Ort schwebten Schmetterlinge so langsam durch die Luft, daß er meinte, sie müßten trotz ihrer Leichtigkeit fallen; er sah keine Sonne, dennoch war es ringsum sehr hell, und es gab auch keine Schatten. Nichts war braun und verwelkt; alles sah frisch und vollkommen aus, bis auf die Frau selbst, die die Merkmale der Zeit trug, als seien sie eher eine Gnade als eine Last. Hier konnte er sich erinnern, wie die Welt sich angefühlt hatte, ehe der Fluch der Ansteckung über sie gekommen war. Außerhalb dieses Ortes, jenseits der verkrümmten Eichen, gab es diese magische Gelassenheit nicht, sondern nur Chaos.
»Ihr seid gekommen, um von einem Heilmittel zu erfahren«, sagte sie.
Eifrig nickte er mit dem Kopf, die Augen in erwartungsvoller Hoffnung aufgerissen.
»Gut, Ihr sollt es haben.« Sie reichte ihm einen
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