Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
sein möge.
Sie legten den Leichnam der Lady an den Straßenrand, wo der Fuhrmann ihn sehen mußte. Die fünf Menschen, die bei ihrem Tod zugegen gewesen waren, sahen zu, wie das Fuhrwerk herankam und der Kutscher abstieg. Er und ein anderer Mann hoben den Leichnam auf, der noch warm und biegsam war, und hievten ihn auf den Stapel derer, die an diesem Tag gestorben waren.
Das Fuhrwerk bog sich in der Mitte unter der Last seiner grausigen Fracht; ein Mann sah die
Straße entlang, wo noch weitere Leichen auf ihre letzte irdische Reise warteten, und sagte zu dem anderen: »Das reicht jetzt; die anderen sind auch noch tot, wenn wir später wiederkommen.«
»Ja«, stimmte sein Gehilfe zu, »fahren wir. Der Gestank greift mein Gehirn an, und bald werde ich sicher schwachsinnig.«
»So, wirst du?« scherzte der andere. »Du bist schon jetzt kein großes Licht. Obwohl immer Hoffnung auf ein Wunder besteht. Ich werde dich in meine Gebete einschließen.«
Sie kletterten wieder auf den Bock und ließen die Zügel leicht auf die Rücken der Pferde knallen. Wiehernd protestierten die Pferde, setzten sich in Bewegung und steuerten den Totenanger an; Kates Mutter trugen sie als letzten Passagier mit sich.
Sie folgten dem gleichen Weg wie Adele und Alejandro zuvor und erreichten bald das offene Feld, in dessen Nähe Adele und Alejandro Mutter Sarah besucht hatten; noch immer standen die Eichen Wache, doch nun waren ihre Schatten lang und gerade. Während die Pferde den quietschenden Karren über die Ebene zogen, gruben sich die Räder in den frisch gepflügten Boden, und die leblosen Fahrgäste stießen ziemlich unsanft aneinander, doch die Fuhrleute achteten nicht darauf; sie wußten, es würde sich niemand beschweren. Bei der holprigen Fahrt lösten sich die Laken, die den Körper der Lady bedeckten, und da die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hatte, fiel ihr Arm aus der Umhüllung. In der Hand hatte sie das Taschentuch, das den letzten Kuß ihres Kindes an ihre Lippen geführt hatte.
Ein paar Meter weiter kam das Fuhrwerk neben einer flachen Grube, die am Nachmittag hastig aus dem torfigen Boden ausgehoben worden war, knirschend zum Stehen. Die Fuhrleute, deren Glieder von der Arbeit des Aushebens noch schmerzten, stiegen langsam vom hohen Kutschbock des Fahrwerks und machten sich an die gräßliche Aufgabe, die Leichen nebeneinander in das offene Grab zu legen. Wenn die Grube voll war, würde man einen Priester rufen, falls man einen fand, und der würde den Toten dann en masse ihre Sünden vergeben. Danach würde, was von der Grube noch übrig war, wieder mit Torf aufgeschüttet und der Boden so gut wie möglich geglättet werden.
»Hoffen wir, daß die Hunde die hier nicht auch wieder ausgraben«, sagte einer der Männer, und sie kehrten zum Karren zurück, bereit, erneut in die Außenbezirke Londons zu fahren und ihre nächste Fuhre aufzunehmen.
Mutter Sarah sammelte ihre seltsame Ausrüstung aus Heilmitteln und Talismanen zusammen und verstaute sie in ihrer zerlumpten Tasche. Sie warf sich einen roten Schal um die Schulter, nahm ihren Gehstock und wandte sich der Tür zu. Doch ehe sie hinausging, drehte sie sich noch einmal nach Alejandro um und warnte ihn zum letzten Mal: »Arzt, denkt daran, vorbereitet zu sein. Ihr müßt immer mit dem Unerwarteten rechnen.«
Als sie an diesem Abend zu Adeles Gut zurückkehrten, eilte ihnen der Stallbursche entgegen, um die Pferde zu versorgen, und das durchnäßte Trio eilte rasch die steinernen Stufen zum Gutshaus hinauf. Die Kaminfeuer, die der Verwalter zeitig angezündet hatte, hatten das Haus erwärmt und die feuchte Kühle im Inneren vertrieben; trotzdem zitterte Alejandro, als er seinen tropfenden Umhang ablegte. Er konnte das Beben kaum beherrschen und eilte zum Feuer, um sich zu wärmen. Kate folgte dicht hinter ihm und hielt die kleinen Hände nahe an die Flammen, um die willkommene Wärme zu genießen, während sich unter dem Saum ihres dünnen Überwurfs kleine Wasserpfützen sammelten.
Plötzlich nieste sie dreimal rasch hintereinander.
»Kind?« sagte Alejandro beunruhigt. »Was fehlt euch?«
Sie schniefte und sagte: »Mir ist kalt, ich bin müde vom Ritt, und mein Magen verlangt nach Essen.«
Erleichtert über ihre prompte Erklärung, ent- spannte Alejandro sich wieder. »Nun, ich bin froh, daß Ihr nur drei Beschwerden habt. Mit viel Glück sind alle drei heilbar.« Er nahm ihre Hand, und zusammen machten sie sich auf die Suche nach Adele; sie fanden sie
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