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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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wenn ich nicht sehen kann, was sich im Waggon vor meinem befindet, so sind doch dort Menschen, die gleichzeitig mit mir, mit Ihnen, mit uns allen reisen. Dass wir nicht mit ihnen reden können, nicht wissen, was im Waggon vor uns passiert, ist vollkommen irrelevant. Sie sind dort. Denn was wir >Leben< nennen, ist ein Zug mit vielen Wagen. Manchmal befinden wir uns im einen, manchmal in einem anderen, und dann wieder wechseln wir von einem in den anderen, zum Beispiel wenn wir träumen oder wenn wir es mit etwas abseits des Gewöhnlichen zu tun haben.«
    »Aber wir können sie weder sehen noch mit ihnen kommunizieren.«
    »Doch das können wir. Jede Nacht, wenn wir schlafen, wechseln wir auf eine andere Ebene. Wir sprechen mit den Lebenden, mit denen, die wir für tot halten, mit denen, die sich in einer anderen Dimension aufhalten, mit uns selbst - den Menschen, die wir einmal waren und die wir einmal sein werden.«
    Der Strom der Energie, der meine Worte gespeist hat, beginnt zu versiegen, ich spüre, dass ich die Verbindung zum Göttlichen jeden Moment verlieren kann.
    »Die Liebe ist immer stärker als das, was wir Tod nennen. Deshalb brauchen wir um die Menschen, die wir lieben, nicht zu weinen, denn sie werden weiterhin geliebt und sind immer an unserer Seite. Das ist nicht leicht zu akzeptieren. Aber wenn ihr daran nicht glauben könnt, hat es auch keinen Sinn, dass ich es euch erkläre.«
    Ich bemerke, wie Yao den Kopf senkt. Jetzt hat er die Antwort auf die Frage erhalten, die er mir in der >Heilig-Blut-Kathedrale< gestellt hatte.
    »Und was ist mit denen, die wir hassen?«
    »Wir sollten unsere Feinde, die durch die Pforte auf die andere Seite getreten sind, nicht unterschätzen«, antworte ich. »In der Magie tragen sie den seltsamen Namen >Reisende<. Das heißt nicht, dass sie von da aus auf dieser Welt Böses tun könnten. Das geschähe nur, wenn wir es zulassen würden. Tatsache ist, dass wir auch dort mit ihnen verbunden sind, so wie sie mit uns auf dieser Seite. Wir sind gemeinsam im selben Zug. Unsere Probleme können wir nur lösen, indem wir begangene Fehler wiedergutmachen und Konflikte überwinden. Das ist jederzeit möglich, obwohl es manchmal mehrere >Leben< braucht, bis wir das verstehen. Wir werden uns immer wieder begegnen und verabschieden, bis in alle Ewigkeit. Auf einen Abschied folgt ein Wiedersehen und auf ein Wiedersehen ein Abschied.«
    »Aber wenn wir, wie Sie sagen, Teil des Ganzen sind, heißt das, wir existieren gar nicht als Individuen?«
    »Wir existieren, so wie eine Zelle existiert. Sie kann einen zerstörerischen Krebs hervorrufen, der einen Teil des Organismus befällt. Oder sie kann chemische Elemente freisetzen, die Glück und Wohlbefinden hervorrufen. Aber die einzelne Zelle ist nicht der ganze Mensch.«
    »Warum gibt es auf der Welt dann so viele Konflikte?«
    »Damit das Universum sich weiterentwickelt. Damit der Körper sich verändert. Das hat nichts mit einer einzelnen Person zu tun. Hören Sie auf meine Worte.«
    Sie hören mir zu, aber es dringt nicht wirklich zu ihnen durch. Ich hätte es genauer erklären müssen.
    »Im Moment befinden sich die Schiene und die Räder des Zugs in einem Konflikt. Wir hören das Geräusch aufeinanderreibenden Metalls. Doch ohne das Rad gäbe es keine Schiene, ohne Schiene kein Rad. Das bloße Quietschen des Metalls hat keine tiefere Bedeutung, ist kein Ausdruck von Schmerz.«
    Die Energie ist so gut wie versiegt. Die Leute fragen immer weiter, aber ich kann nicht mehr zusammenhängend antworten. Allen ist klar, dass die Fragestunde jetzt zu Ende ist.
    »Danke«, sagt Yao.
    »Danken Sie nicht mir. Auch ich habe nur zugehört.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Alles und nichts. Sie haben gemerkt, dass sich meine Haltung Hilal gegenüber geändert hat. Ich sollte das eigentlich nicht sagen, denn es wird ihr nicht weiterhelfen, im Gegenteil, es könnte sogar dazu führen, dass jemand mit einer schwachen Persönlichkeit eifersüchtig würde - egal wie entwürdigend das für einen Menschen ist. Doch meine Begegnung mit Hilal hat in mir eine Tür geöffnet; nicht die, die ich wollte, sondern eine andere. Ich bin in eine andere Dimension meines Lebens getreten, in einen anderen Waggon voller ungelöster Konflikte. Es gibt Menschen, die dort auf mich warten, und dort werde ich jetzt gebraucht.«
    »Eine andere Dimension, ein anderer Waggon…?«
    »Genau. Wir befinden uns eine Ewigkeit lang im selben Zug, bis Gott ihn irgendwann aus

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