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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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Tochter begehrte. Das ist nichts als Rache und hat keineswegs etwas mit Glauben zu tun.«
    Er würde gern noch hinzufügen, dass das Gleiche wahrscheinlich auch für die anderen sieben Angeklagten gilt. Gerüchten zufolge hat der besagte Bauer mit zweien seiner eigenen Töchter sexuell verkehrt. Angeblich ist er ein Mann mit widernatürlichen Gelüsten, der junge Mädchen bevorzugt.
    Der Inquisitor nimmt ein Buch von dem Stapel auf seinem Tisch.
    »Ich möchte das ja gern glauben und bin bereit, mich davon überzeugen zu lassen. Aber ich muss mich an die vorgeschriebene Verfahrensweise halten. Falls Eure Tochter unschuldig ist, hat sie nichts zu befürchten. Nichts, absolut gar nichts wird getan, was nicht hier in diesem Buch steht. Anfangs waren wir wohl etwas übereifrig, doch jetzt sind wir besser organisiert und sorgfältiger: heute stirbt niemand mehr durch unsere Hände.«
    Er streckt dem Mann das Buch hin: Directorium Inquisitorum. Der Vater des Mädchens ergreift es, schlägt es aber nicht auf. Er hält den Einband fest gepackt, als könnte er so verbergen, dass seine Hände zittern.
    »Unser Verhaltenskodex«, fährt der Superior fort. »Die Wurzeln des christlichen Glaubens. Die Verdorbenheit der Ketzer. Und wie wir eines vom anderen unterscheiden sollen.«
    Die Frau hebt eine Hand zum Mund in dem Versuch, ihre Angst und ihre Tränen zu unterdrücken. Sie hat bereits begriffen, dass sie nichts erreichen werden.
    »Ich werde mich hüten, dem Gericht zu sagen, wie sie als Kind mit ihren unsichtbaren Freunden< redete, wie sie es nannte. Es ist stadtbekannt, dass die Mädchen sich im nahen Wald trafen, ihre Finger an ein Glas legten und versucht haben, es mit reiner Willenskraft zu bewegen. Vier von ihnen haben bereits gestanden, dass sie versucht haben, mit den Geistern der Toten in Verbindung zu treten, die ihnen die Zukunft enthüllen würden. Und dass sie über dämonische Kräfte verfügen, wie beispielsweise über die Fähigkeit, mit dem zu sprechen, was sie die >Kräfte der Natur< nennen. Gott ist die einzige Kraft und die einzige Macht.«
    »Aber so etwas tun doch alle Kinder.«
    Der Superior erhebt sich, kommt an meinen Tisch, nimmt ein weiteres Buch und beginnt, darin zu blättern. Trotz der Freundschaft, die ihn mit der Familie verbindet - der einzige Grund, weshalb er sich überhaupt auf dieses Gespräch eingelassen hat -, will er die Angelegenheit vor dem kommenden Sonntag abschließen. Ich versuche das Ehepaar mit meinen Blicken zu trösten, die einzige Möglichkeit, die mir bleibt, denn es ist mir verboten, in Gegenwart meines Superiors meine Meinung zu äußern.
    Doch es ist vergebens, ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Inquisitor.
    »Bitte«, bricht es aus der Mutter hervor, die nun ihre Verzweiflung nicht mehr verbirgt. »Verschont meine Tochter. Wenn ihre Freundinnen ein Geständnis abgelegt haben, dann nur, weil sie…«
    Der Mann ergreift ihre Hand, um sie zu unterbrechen. Doch der Inquisitor vollendet den Satz:
    »… gefoltert wurden? Wir kennen uns nun schon so lange, haben alle möglichen theologischen Diskussionen geführt. Wisst Ihr denn nicht, dass Gott in jedem dieser Mädchen ist und niemals erlauben würde, dass sie leiden oder ein falsches Geständnis ablegen? Glaubt Ihr, dass ein wenig Schmerz ausreicht, um ihren Seelen die schlimmsten Schändlichkeiten zu entreißen? Die Folter wurde vor über zweihundert Jahren vom Heiligen Vater, Papst Innozenz iv., in seiner Dekretale Ad Extirpanda erlaubt. Wir foltern nicht, weil es uns gefällt: Was wir tun, ist ein Glaubensbeweis. Wer nichts zu gestehen hat, wird vom Heiligen Geist getröstet und beschützt.«
    Die prächtige Kleidung des Ehepaares steht in krassem Gegensatz zu dem kargen Raum, in dem als einziges Zugeständnis ein brennender Kamin etwas Wärme verbreitet. Ein Sonnenstrahl fällt durch eine Öffnung in der steinernen Wand und lässt die Juwelen aufblitzen, die die Frau an ihren Fingern und um den Hals trägt.
    »Die Inquisition kommt nicht zum ersten Mal in diese Stadt«, fährt der Inquisitor fort. »Bei diesen Gelegenheiten hat sich keiner von euch beklagt und das, was geschah, für ungerecht gehalten. Ganz im Gegenteil, bei einem unserer Abendessen habt Ihr diese Praxis als den einzigen Weg gutgeheißen, um den Kräften des Bösen Einhalt zu gebieten. Jedes Mal, wenn wir die Stadt von Ketzern gereinigt haben, habt Ihr Beifall geklatscht. Ihr hattet verstanden, dass wir keine grausamen Henker sind, sondern nur auf der

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