Alera 01 - Geliebter Feind
eine Frau und vier wehrlose Kinder zu beschützen«, jammerte er. »Da kann ich nicht riskieren, dass Ihr Euch möglicherweise irrt.«
Als Cannan daraufhin lediglich die Stirn runzelte, reckte sich der Baron und schien Mut zu fassen.
»Nehmt ihn mit, steckt ihn in die Militärakademie oder tut, was immer Euch richtig erscheint. Nur haltet ihn mir und meiner Familie vom Leib.«
Trotz seines Versuchs, wieder Haltung anzunehmen, war offensichtlich, dass Koranis um Hilfe flehte. Ich schob mich näher an Destari heran und machte mir ernstlich Sorgen um den Baron. Angesichts von Cannans drohender Haltung erschien es mir durchaus denkbar, dass er auf ihn losgehen würde. Ich schickte einen kurzen Dank zum Himmel, als der Hauptmann widerwillig den Kopf schüttelnd noch einen Schritt zurücktrat, vielleicht, weil ihm selbst klar war, dass Koranis außerhalb seiner Reichweite sicherer war.
Auf Narian zeigend warnte Cannan den Baron: »Ob es Euch gefällt oder nicht, Ihr habt dem Jungen gegenüber eine Verpflichtung. Und wenn Ihr ihn hier nicht wohnen lasst, werde ich ihn in Euer Stadthaus bringen.«
Er schwieg kurz, und als er fortfuhr, klang eine gewisse Resignation aus seinen Worten.
»Ich weiß, was es bedeutet, einen starrköpfigen Sohn zu haben, der sich ohne Erlaubnis Waffen und Pferde nimmt und einen Vater unzählige schlaflose Nächte kostet. Trotzdem würde ich keinen Augenblick mit ihm missen wollen.«
Ich konnte hören, wie der Zorn erneut in Cannan aufwallte, aber wenigstens bewegte er sich nicht wieder auf den Baron zu.
»Ihr habt nicht einmal versucht, Eurem Sohn näherzukommen. Daher empfinde ich auch kein Mitleid für Euch, sondern bedaure nur, dass ich ihn Eurer Obhut anvertraut habe.«
Ziemlich lange sah Cannan Narian mit einem fast sehnsüchtigen Blick an, und ich meinte, ein ähnlichesGefühl in den Augen des jungen Mannes aufblitzen zu sehen.
»Ihr benehmt Euch, als sei Narian eine Enttäuschung, dabei ist in Wirklichkeit er getäuscht worden. Narian verdient einen besseren Vater als Euch.«
Damit drehte Cannan sich um und ging mit langen Schritten den Hügel hinunter. Ohne abzuwarten, was ich tun würde, nahm Destari mich am Oberarm und zog mich mit sich hinter dem Hauptmann her. Koranis blieb allein mit seinem Sohn zurück.
Ohne Destari wäre ich wahrscheinlich wie angewurzelt stehen geblieben. Ich hatte Mühe, zu begreifen, was Cannan uns soeben enthüllt hatte: dass auch er durch die Cokyrier einen Sohn verloren hatte.
Als Destari und ich uns unter die Gäste mischten, die sich auf der Hügelkuppe versammelten, um anlässlich des Festmahls das Zelt zu betreten, hatte ich meine Stimme wiedergefunden.
»Hatte Cannan noch einen Sohn?«
Destari nahm mich beiseite und schien über meine Frage nicht glücklich. Ich war mir nicht sicher, ob ich nur einen Tadel oder eine Antwort bekäme.
»Ja, wie so viele andere Hytanier hatte auch der Hauptmann einen kleinen Sohn, den die Cokyrier entführt und getötet haben. Seine Leiche war unter denen, die unsere Feinde zurückgegeben haben. Und damit lasst die Geschichte ruhen.« Weil er meine Beharrlichkeit sehr wohl kannte, wenn meine Neugier erst einmal geweckt war, fügte er noch hinzu: »Erwähnt dieses Thema jedoch niemals in Gegenwart von Baronin Faramay. Sie hat den Schicksalsschlag nie wirklich verwunden.«
Ich nickte, blieb aber noch eine Weile an der Seite meines Leibwächters, um diese verwirrenden Informationen zu verarbeiten. Wie anders Steldors Leben wohlverlaufen wäre, wenn dieser Bruder noch am Leben wäre? Ich selbst konnte mir ein Leben ohne Miranna nicht vorstellen. Eine Welle des Mitgefühls für Cannan, Faramay und sogar für Steldor überkam mich, obwohl Letzterer vermutlich nur wenige Erinnerungen an seinen jüngeren Bruder hatte.
Während ich an das Gesicht des Hauptmannes dachte, als er Koranis angegangen war, begriff ich, dass Cannan von Beginn an geahnt haben musste, dass Narian kein gewöhnlicher Feind und Gefangener war. Hatte Cannan wohl aus demselben Grund den vaterlosen Galen so bereitwillig ins Herz geschlossen?
Und was war mit Narian? War er mit seinen sechzehn Jahren schon ein cokyrischer Krieger? Seine Worte ließen das vermuten. Ich schauderte bei dem Gedanken an die Waffen, von denen ich nun wusste, dass er sie, seit er in Hytanica weilte, am Leib getragen hatte. Ich musste an unsere erste Begegnung denken, als Miranna, Semari und ich unseren Leibwächtern entwischt waren. Auch damals hatte er seine Stiefel und
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