Alera 01 - Geliebter Feind
»Hast du schon Hinweise auf die Identität des Verräters?«
»Woher weißt du davon?«, fragte mein Vater.
»Es wird eben viel geredet. Die Wachen verdächtigen einander.«
»Das soll trotzdem nicht deine Sorge sein. Innerhalb der Palastmauern brauchst du keine Angst zu haben. Und um militärische Angelegenheiten solltest du dich ohnehin nicht kümmern.«
»Bitte, Vater. Weißt du, wer es war?«
Er atmete hörbar aus. »Nein, wir wissen es nicht. Aber wir werden ihn aufspüren … sofern es überhaupt einen Verräter gibt. Sorge dich nicht, Alera. Cannan kümmert sich um alles.«
Mein Blick wanderte zur Elitegarde, die wie üblich mit jeweils sechs Mann zu beiden Seiten des Königs stand.
»Können wir unter vier Augen reden, Vater?«
»Nun, wenn du es wünschst.«
Er stand mit leicht verwirrter Miene auf, trat vondem Podest herunter und winkte mir, durch die Tür neben dem Thron zu treten, die in sein Studierzimmer führte.
Der Raum war warm und einladend, wenn auch ein wenig durcheinander. Zu unserer Linken standen überquellende Bücherregale, davor ein mit Pergamenten übersäter Schreibtisch. An der rechten Wand befand sich ein braunes Ledersofa, auf dem noch mehr Bücher verstreut herumlagen. In der rechten Ecke befand sich der Kamin, davor standen ein paar Sessel. Links in der Ecke war auf einem weiteren Tisch das kostbare Schachspiel meines Vaters aufgebaut. An den Wänden hingen prächtige Tapisserien, auf dem Boden lagen Felle verteilt, die unsere Schritte weich dämpften.
Ich durchquerte das Studierzimmer und setzte mich mit vor Aufregung feuchten Händen auf das Sofa. Mein Vater stapelte die Bücher aufeinander, setzte sie auf dem Boden ab und setzte sich neben mich.
»London hat in der Nacht, als die cokyrische Frau floh, meine Gemächer verlassen«, begann ich ohne Umschweife.
»Wie bitte?«, schrie mein Vater erschrocken auf. »Bist du dir da sicher?«
»Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und London war fort. Ich habe nach ihm gerufen, aber er war nicht da.«
»Und daran gibt es keinerlei Zweifel?«
»Ich bin mir absolut sicher, Vater«, bekräftigte ich und fühlte mich elend dabei. »Sonst wäre ich damit nicht zu dir gekommen.«
»Er wusste, dass er dich nicht allein lassen durfte. Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«
»Weil London mein Leibwächter und Freund ist. Ich hatte Angst vor dem, was mit ihm passieren würde.«
Mein Vater legte eine Hand auf meine, um mich zu beruhigen, denn ich rang in einem fort die Hände.
»Und nun hast du keine Angst mehr um ihn?«
»Doch«, sagte ich und senkte den Kopf. »Aber ich konnte es nicht länger vor dir verheimlichen.«
»Und hast du schon mit London darüber gesprochen?«
»Er hat mich belogen, Vater«, sagte ich traurig, hob den Kopf und sah in sein besorgtes Gesicht. »Ich weiß, dass er fort war, doch er behauptet, die ganze Nacht auf seinem Posten gewesen zu sein. Er sagt, ich müsse geträumt haben.«
»Vielleicht hat er damit recht. Auf alle Fälle steht dein Wort gegen seines. Und von königlichem Geblüt oder nicht, du bist nur eine Frau und London ein hochdekorierter Soldat der hytanischen Armee.«
Er stand auf und begann vor dem kalten Kamin auf und ab zu gehen. Ich holte tief Luft, verspürte einen Anflug von Bedauern und Enttäuschung, fuhr dann aber doch mit meinen Enthüllungen fort.
»Das ist aber nicht der einzige Grund, aus dem ich zu dir gekommen bin. Wenn du dich erinnerst, war es in der Nacht, als die Cokyrierin in unseren Garten eindrang, London, der sie festnahm.«
»Ja, daran erinnere ich mich«, sagte mein Vater und blieb stehen. »Aber welche Rolle spielt das?«
»London hat mir an jenem Abend etwas Seltsames erzählt. Er sprach von der Frau, als würde er sie kennen. Er sagte, sie sei die Hohepriesterin der Cokyrier und ihr Name sei Nantilam. Als du mir dann erzähltest, ihre Identität sei euch unbekannt, sprach ich ihn darauf an, und er sagte, er hätte sich geirrt. Da hat er mich zum zweiten Mal belogen, Vater. Ich habe es genau gespürt.«
Mein Vater stand schweigend und gedankenverloren da und drehte mit den Fingern seiner Linken am Königsring. Ich war schrecklich nervös und fühlte mich, als hätte ich soeben das wichtigste Geheimnis meines Lebens verraten. Ein Geheimnis, das zu wahren ich einem geliebten Menschen versprochen hatte.
»Das kann doch nicht sein«, murmelte mein Vater.
»Ich weiß, dass er während des Krieges zehn Monate lang Gefangener der Cokyrier war. Er
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