Alera 01 - Geliebter Feind
würde die Hohepriesterin gewiss wiedererkennen, wenn er sie sähe.«
»Hat London dir erzählt, dass …?«
»Nein, er hat mir nichts von seiner Gefangenschaft erzählt.« Der perplexe Gesichtsausdruck meines Vaters veranlasste mich, die ganze Wahrheit zu sagen. »Ich habe mit Mutter gesprochen. Ich bin zu ihr gegangen, um mehr zu erfahren, und sie hat sich entschlossen, offen mit mir zu sprechen. Wenn du dafür jemand böse sein willst, dann bitte mir.«
Er sagte nichts dazu, begann aber wieder hin und her zu laufen.
»Ich bin sicher, London hat eine Erklärung für seine Abwesenheit«, sagte ich sanft, »und zwar eine andere als die, an die wir beide jetzt denken. Er wird sie dir gegenüber abgeben, wenn du es von ihm verlangst.«
»Trotzdem gibt es keine Entschuldigung dafür, dass er gegen einen ausdrücklichen Befehl seinen Posten verlassen hat. Und keine Erklärung vermag zu rechtfertigen, dass er die Identität dieser Frau geheim gehalten hat.«
Er drehte sich um und ging auf die Tür seines Studierzimmers zu. »Wache! Holt sofort den Hauptmann.«
»Ja, Sire«, erwiderte einer der Elitegardisten, bevor er aus dem Thronsaal eilte.
»Alera«, sagte mein Vater, setzte sich wieder nebenmich und nahm meine Hände in seine. »Es ist sehr wichtig, dass du Cannan genau das Gleiche erzählst wie mir.«
Ich nickte. Denn auch wenn es mich schmerzte, dass ich meinen Leibwächter und Freund mit jedem Wort weiter in Schwierigkeiten brachte, würde ich dem Hauptmann der Garde die Wahrheit sagen.
Nach ein paar Minuten stürmte Cannan in das Studierzimmer meines Vaters.
»Was ist geschehen, Eure Majestät?«, fragte er in alarmiertem Ton. »Der Wachmann klang, als befänden sich die Cokyrier bereits im Anmarsch.«
Mein Vater stand auf, zeigte auf mich und ich gehorchte seiner Anordnung, indem ich Cannan alles sagte, was ich wusste. Der Hauptmann reagierte scheinbar unbewegt auf die Neuigkeit, nur seine streng zusammengezogenen Augenbrauen verrieten mir, dass er durchaus erschüttert war.
»London und Tadark befinden sich im Vorzimmer, ist es nicht so?«, fragte er schließlich und hielt seine dunklen, stechenden Augen auf mich gerichtet.
Ich nickte, und er wandte sich ebenso wie mein Vater zuvor an den Gardisten, der vor der Tür stand.
»Bring sofort London und Tadark her.«
Cannan tauschte einen Blick mit meinem Vater, der mir bedeutete, die beiden zu begleiten. Gemeinsam kehrten wir in den Thronsaal zurück, um auf meine Leibwächter zu warten. Mein Vater nahm wieder auf dem Thron Platz, während ich mich auf einen der verzierten Sessel zu seiner Linken setzte. Cannan blieb rechts neben dem König stehen.
Der Wachmann hatte den Befehl umgehend ausgeführt, und kurze Zeit später standen die beiden vor uns. Tadark völlig verwirrt, London wachsam.
»Tadark, geleite Prinzessin Alera zu ihren Gemächern«, ordnete Cannan an.
»Sire?«, erwiderte er unsicher und schien darauf zu warten, dass sein Vorgesetzter London dieselbe Anweisung gab. Doch die erfolgte nicht.
»Augenblicklich«, forderte Cannan.
Ich erhob mich und trat zu Tadark. Dabei warf ich im Vorbeigehen einen Blick auf London, der mich mit einer Mischung aus Leidenschaft und stiller Resignation ansah. Ich konnte in seinen Augen lesen, dass er genau wusste, was ich getan hatte.
7. KEINE ERKLÄRUNG
Ich saß wie versteinert in einem Sessel in meinem Salon und war zu verzweifelt, um mich auch nur zu rühren. Seit ich den Thronsaal verlassen hatte, hatte ich versucht zu essen, zu lesen und zu sticken. Doch je mehr Zeit verging, ohne dass ich etwas von London erfuhr, desto schlechter konnte ich mich konzentrieren. Ich versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als daran, was wohl gerade im Thronsaal vor sich ging, doch es gelang mir nicht. Inzwischen waren fast sechs Stunden verstrichen, und das Warten wurde immer unerträglicher. Ich wollte unbedingt wissen, was mit London passieren würde, und gleichzeitig wollte ich es auf keinen Fall. Denn wenn er bestraft würde, wäre es meine Schuld.
Tadark hatte ein paarmal Luft geholt, als wolle er etwas sagen, sich dann aber jedes Mal wieder besonnen. Er wollte mich sicher fragen, was ich meinem Vater Vertrauliches mitgeteilt hatte, woran man zwar London, nicht jedoch ihn teilhaben ließ. Denn auch wenn er London in der Bibliothek angegriffen hatte, so wusste ich doch, dass ihm niemals in den Sinn käme, in meinem ersten Leibwächter, seinem Partner, einen Verräter zu sehen.
Man würde London nicht des
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