Alera 01 - Geliebter Feind
Verlangen danach. Die Lücke, die London hinterlassen hatte, vermochte niemand zu schließen, und egal womit ich meinen Tag verbrachte, es fühlte sich immer an, als fehle etwas. Ich sehnte mich nach jemand, mit dem ich reden konnte, denn Tadark und Destari waren zwar permanent zugegen, aber keiner von beiden schien mir dafür geeignet. Destari fühlte sich vermutlich so ähnlich wie ich, denn er war ein enger Freund Londons, aber er benahm sich reserviert und stoisch, und ich kannte ihn nicht gut genug, um wirklich offen mit ihm zu sprechen. Tadark konnte es sich nicht verkneifen, immer wieder davon anzufangen, dass er London ja nie wirklich vertraut habe, dass er etwas Undurchdringliches, Zwielichtiges an sich gehabt habe. Ironischerweise war der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden wollte, London selbst.
Etwa zwei Wochen nach Londons Entlassung zwang mich meine Mutter zurück ins Leben und in die Gesellschaft meiner Freundinnen und Bekannten. Solange ich denken konnte, hatte sie regelmäßig eine Gruppe von zwanzig bis dreißig jungen hytanischen Frauen adeliger Herkunft eingeladen, und eine solche Zusammenkunft war nun auch für den 19. Juni geplant. Der Zweck dieser Treffen war es, unsere gesellschaftlichen Umgangsformen auf die Probe zu stellen. Manchmal veranstaltete sie ein Picknick, oftmals eine Einladung zum Tee und einmal jährlich einen Ball. Ich weiß zwar nicht, ob das meiner Mutter und den älteren Damen, die ihr bei der Beurteilung unserer Fähigkeiten zur Hand gingen, bewusst war, aber diese Zusammenkünfte waren immer auch eine Gerüchtebörse.
Die bevorstehende Teeparty fiel mit Mirannas sechzehntem Geburtstag zusammen. Nachdem dieser in unserem Königreich keine besondere Bedeutung hatte, wurde er nicht mit einem offiziellen Festakt im Schloss gefeiert wie mein siebzehnter. Dennoch hatte meine Mutter beschlossen, eine ihrer Veranstaltungen zu Ehren ihrer jüngeren Tochter auszurichten.
An jenem Nachmittag betrat ich mit meiner Mutter und Miranna, begleitet von den Leibwächtern der Königin, den östlichen Schlosshof. Dieser unterscheidet sich deutlich vom mittleren und westlichen. Während im westlichen Hof Holzapfel- und Kirschbäume sowie jede Menge Wiesenblumen wuchsen, war der Osthof viel stattlicher und wurde oft zu offiziellen Anlässen genutzt. In seiner Mitte bildeten verschiedenfarbige Pflastersteine konzentrische Kreise um einen großen zweistöckigen Springbrunnen. Eichen und Ulmen lieferten Schatten und üppige Blumenbeete reichten bis an die Außenmauern. Heute war die Luft schwer vomBlütenduft, und das Wasser des Brunnens glitzerte im Sonnenschein.
Fünf kleine Tische mit weißen Damastdecken und jeweils fünf Gedecken standen dicht beisammen auf dem Pflaster. Die eingeladenen jungen Damen hatten sich bereits versammelt und zwitscherten durcheinander wie bunte exotische Vögel. Außerdem waren vier ältere Damen zugegen, sodass an jedem Tisch eine von ihnen über die tadellosen Manieren wachen konnte. Die hübsche Lady Hauna, Mutter von Steldors bestem Freund Galen, war in Begleitung ihrer sittsamen siebzehnjährigen Töchter Niani und Nadeja erschienen. Die empfindsame Lady Edorra war mit ihrer lebhaften, ebenfalls siebzehnjährigen Tochter Kalem gekommen. Die mehr als korrekte Lady Kadia begleitete ihre leicht überdrehte sechzehnjährige Noralee, und die temperamentvolle Semari hatte sich mit der stillen Baronin Alantonya eingefunden.
Miranna und ich wandelten mit meiner Mutter zwischen den Gästen umher und begrüßten alle. Als sie sich zu ihrem Tisch begab und hinter ihren Stuhl stellte, begaben sich auch alle anderen zu ihren Plätzen. Protokollgemäß blieben sie jedoch stehen, bis die Königin sich gesetzt hatte.
Der Tee wurde sehr formell, geradezu einstudiert eingenommen. Man reichte einander Kekse und kleine Kuchen. Wir hatten aufrecht zu sitzen, die Ellbogen nah am Körper, ohne uns über die Teller zu lehnen oder auf dem Tisch aufzustützen. Feine Damen nahmen stets nur kleine Bissen, aßen langsam und sprachen oder tranken nicht, wenn sie noch etwas im Mund hatten. Außerdem waren nur bestimmte Themen erlaubt. Angesichts der strengen Aufsicht sprachen wir allerdings ohnehin nur das Nötigste.
Die richtigen Unterhaltungen begannen erst nach dem Ende des offiziellen Tees. Erleichtert, wenn wir ohne Tadel davongekommen waren, erhoben wir uns von den Tischen, spazierten herum und unterhielten uns nach Belieben, während auch die erwachsenen Frauen
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