Alera 01 - Geliebter Feind
hätte.
»Entschuldigt unser Eindringen«, sagte ich mit bemüht selbstsicherer Stimme. »Ich bin Prinzessin Alera von Hytanica und dies ist meine Schwester, Prinzessin Miranna.« Ich zeigte auf Miranna, die neben mir stand. »Wir fanden es an der Zeit, unseren Gast zu begrüßen.«
Er sah uns weiterhin ziemlich gelassen an. Und gerade als ich mich fragte, ob er vielleicht stumm wäre, erhob er eine sanfte, höfliche Stimme.
»Vergebt mir, wenn ich mir einen Einwand erlaube, Eure Majestäten, doch hatte ich bisher den Eindruck, eher Gefangener als Gast zu sein.« Er hob seinen Arm und schüttelte sein angekettetes Handgelenk.
Ich kämpfte gegen die Röte, die mir ins Gesicht zu steigen drohte, denn mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Um meine Würde ringend, setzte ich erneut an.
»Gefangener oder was auch immer, aber Ihr könnt wohl nicht leugnen, dass man Euch gut behandelt. Da wir uns bereits vorgestellt haben, wäre es ein Gebot der Höflichkeit, dass Ihr nun dasselbe tut.«
Er musterte uns weiterhin wachsam, als überlege er, ob es sich hier um eine neue Form von Verhör handelte.
»Ich werde Narian genannt«, antwortete er schließlich mit einer Spur Misstrauen in der Stimme.
»Wir sind erfreut, Euch kennenzulernen, Narian.«
Miranna hatte noch keinen Ton von sich gegeben und schien zu perplex, da unser Plan aufgegangen war, als dass sie sich in die Unterhaltung eingemischt hätte. Sie bekam aber auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn in diesem Augenblick flog die Tür auf, und wir beide hatten Glück, nicht von ihr getroffen zu werden. Destari stand auf der Schwelle. Mit aufgebrachtemGesicht und vor Zorn funkelnden schwarzen Augen. Mit der Linken umklammerte er Semaris Handgelenk. Er zerrte sie hinter sich ins Zimmer und blickte alle außer Narian, der in dieser Sache völlig unschuldig war, finster an.
»Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, brüllte Destari. »So etwas Unüberlegtes hätte ich von keiner von Euch erwartet – schon gar nicht von Euch beiden!«, sagte er und richtete seine Schimpftirade speziell an Miranna und mich. »Prinzessinnen! Wie konntet Ihr Euch etwas derart Dummes einfallen lassen? Und wie habt Ihr geglaubt, hier unbemerkt wieder herauszukommen? Habt Ihr tatsächlich gedacht, mit etwas so Kindischem und Verantwortungslosem Erfolg zu haben? Ihr solltet Euch schämen!«
Er ereiferte sich noch weiter, bis er bemerkte, dass ihm niemand zuhörte, und auch er verstummte. Meine Schwester und ich starrten Semari und Narian an, die einander wie hypnotisiert ansahen. Auch wenn Semaris Haare und ihr Teint etwas heller waren, so ähnelten sich ihre Gesichter doch auf frappierende Weise. Das waren die gleichen vollen Lippen, geraden Nasen und sanft geschwungenen Augenbrauen. Ihre Augen besaßen das gleiche Blau, auch wenn seine im Unterschied zu ihren unschuldig strahlenden kühl und distanziert wirkten. Die Ähnlichkeit war so stark, dass ich nicht verstand, wieso ich bei seinem Anblick nicht sofort an sie gedacht hatte.
»Kyenn?«, sagte Semari mit sanfter Stimme.
»Ich bringe Euch zum Hauptmann«, mischte Destari sich ein und übernahm das Kommando. »Euch alle.«
Er machte Narian vom Bettpfosten los und marschierte mit uns aus dem Zimmer und Richtung Westen über den Flur zur Wendeltreppe. Den ganzen Weg überließ er sicherheitshalber eine Hand auf Narians Schulter liegen. Am Treppenabsatz stießen wir auf Halias, der unseren Plan inzwischen offenbar durchschaut hatte und kein bisschen amüsiert wirkte. Tadark war ebenfalls vor Ort und schien noch gar nicht begriffen zu haben, was vor sich ging.
»Destari!«, rief Halias und war sichtlich erleichtert, uns in Begleitung seines Kollegen zu sehen. Er kam näher, und seine Erleichterung machte einer für ihn ganz unüblichen Wut Platz. »Wo hast du sie gefunden?«, knurrte er und blitzte Miranna, Semari und mich böse an.
»Im Zimmer des Gefangenen«, erwiderte Destari und sah mit seinem schwarzen Haar und den dichten Brauen besonders furchterregend aus. »Sie wollten ihn offenbar auf eigene Faust kennenlernen.«
Halias warf Miranna einen Blick zu, der mich hätte erzittern lassen. Sie schenkte ihm jedoch nur ein naives Lächeln und sah ihn unter niedergeschlagenen Wimpern entschuldigend an.
Nachdem er endlich begriffen hatte, was wir getan hatten, schnappte Tadark nach Luft und starrte mich finster an, um Halias’ missbilligendem Blick zu entsprechen. Dabei gelang ihm jedoch nicht annähernd derselbe Effekt. Ich
Weitere Kostenlose Bücher