Alera 01 - Geliebter Feind
flechten.
»Miranna, Semari, kommt mit mir!«, rief ich aufgeregt. »Ich muss euch etwas zeigen!« Das war der vereinbarte Satz, der ihnen zu verstehen gab, dass ich Destari und den Gefangenen aufgespürt hatte.
Semari und Halias standen auf, nur Miranna blieb noch einen Moment lang sitzen, während ihr strahlendes Lächeln verschwand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Halias und schob seinen Stuhl neben das Fenster.
»Ja, mir geht es gut«, murmelte sie. »Nur ein leichter Schwindel.«
Sie erhob sich und begann, ihrer Freundin durchs Zimmer zu folgen.
»Also, was willst du uns jetzt zeigen …«
Ohne Vorwarnung brach Miranna zusammen und fiel wie eine Schlenkerpuppe mitten auf den großen Teppich am Boden der Bibliothek. Ich stürzte herbei und fiel neben ihr auf die Knie.
»Mira!«, rief ich mit panischer Stimme.
Sie lag auf der Seite und ihre Gliedmaßen begannen zu zucken, während heftige Schauer ihren ganzen Körper erfassten. Von ihren Lippen kamen unzusammenhängende Wörter wie damals, als sie ähnliche Attacken bereits als kleines Mädchen erlitten hatte. Semari stand mit bestürzter Miene vor einem Bücherregal. Halias war im selben Moment wie ich neben Miranna. Seine blauenAugen schossen zwischen mir und meiner Schwester hin und her, denn dies war eine Bedrohung, vor der er sie nicht zu beschützen vermochte. Seit Mirannas letztem Anfall waren zwölf Jahre vergangen, und anders als damals war heute keiner mehr darauf vorbereitet, mit einer solchen Situation umzugehen.
»Tadark!«, schrie ich meinen Leibwächter an, der wie erstarrt an der Tür stand. »Hol Bhadran! Sag ihm, es geht um Miranna!«
Tadark stürzte hinaus, um den Leibarzt der königlichen Familie zu suchen.
»Rasch«, sagte ich zu Halias und brachte die Worte kaum heraus. »Hol meine Mutter.«
Ohne sich noch einmal umzusehen, stürmte auch Halias davon. Semari lief ihm nach und spähte auf den Flur hinaus.
»Sie sind weg!«, flüsterte sie und drehte sich zu mir um.
Miranna hörte auf zu zucken und setzte sich auf. Ich half ihr hoch.
»Viel Zeit haben wir nicht«, ermahnte ich die beiden. »Also beeilen wir uns.«
Semari lief mit vor Aufregung geröteten Wangen hinaus. Miranna und ich folgten ihr. Und nachdem wir unsere Leibwächter erfolgreich ausgetrickst hatten, hasteten wir drei in südliche Richtung über den Flur zur Vorderseite des Palastes und dann die Treppen hinauf in den dritten Stock. Ich stürmte als Erste aus dem Treppenhaus, wandte mich nach Osten und schlich danach Richtung Norden, bis wir zu unserer Linken um die Ecke und bis zum Zimmer des Gefangenen spähen konnten.
Semari zog sich ans südliche Ende des Flures zurück, während Miranna und ich in ein leeres Gästezimmerschlichen. Es dauerte nicht lange, bis unsere Freundin einen ohrenbetäubenden Schrei ausstieß. Ein paar Sekunden vergingen, dann folgte ein zweiter.
Destari kam um die Ecke gestürmt, um nach dem Rechten zu sehen, und passierte dabei das Zimmer, in dem meine Schwester und ich uns versteckten. Wir nutzten die Gelegenheit, um unbemerkt hinauszuschlüpfen. Während er nach der Ursache des Geschreis suchte, packte ich Miranna an der Hand und wir liefen schnurstracks in das von Destari bewachte Zimmer. Ich drückte die Klinke hinunter und trat gefolgt von meiner Schwester ein. Sie gab der Tür einen Schubs, sodass sie hinter ihr zuschlug.
Der Cokyrier saß in dem karg möblierten Zimmer mit gekreuzten Beinen auf dem Bett. Eine seiner Hände war zwar an einen Bettpfosten gekettet, aber abgesehen davon wirkte er deutlich entspannter als beim letzten Mal, als wir ihn gesehen hatten. Er schien sich gewaschen zu haben und steckte in anderen Kleidern, einer schwarzen Hose und einem locker sitzenden weißen Hemd, die ihm deutlich zu groß waren, was ihn noch jünger erscheinen ließ. Die vermutlich einzigen Sachen, die ihm selbst gehörten, waren der Gürtel und die abgetragenen Stiefel an seinen Füßen.
Er sah auf, als wir eintraten. Seine dunkelblauen Augen musterten uns, und die einzige Reaktion auf unseren ungewöhnlichen Auftritt waren die gehobenen Augenbrauen. Mir hatte es momentan die Sprache verschlagen. Ich hatte mich so auf die Ausführung unseres Plans konzentriert, dass ich mir nicht einen Gedanken darüber gemacht hatte, was ich sagen wollte, wenn er denn gelingen sollte.
Einen quälenden Moment lang starrten Miranna und ich ihn nur an, und er starrte zurück. Endlich stellteich mich so vor, wie ich das auch bei jedem anderen getan
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