Alera 02 - Zeit der Rache
Kissen gelehnt, hatte einen Pergamentbogen auf dem Schoß und mehrere Kreidestückchen auf der Decke um sich herum verteilt. Der Heilkundige war nicht mehr zugegen, was darauf schließen ließ, dass Bhadran seinen Patienten bereits besucht und ihm weitere Fortschritte attestiert hatte. Destari nahm auf dem Gang Aufstellung, um mir ein wenig Zeit unter vier Augen mit meinem früheren Leibwächter zu gewähren.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich, während ich neben seinem Bett Platz nahm und neugierig war zu sehen, was er da machte. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte er oft für mich gezeichnet, meist Bilder von Tieren, doch seither hatte ich keines seiner Werke mehr zu Gesicht bekommen.
»Du solltest dir eine neue Frage ausdenken«, sagte er, und ich freute mich über seinen scherzhaften Ton. »Denn das fragst du mich jedes Mal, wenn du durch diese Tür kommst.«
»In Anbetracht der Umstände scheint sie mir auch berechtigt, aber wenn ich Rückschlüsse aus deiner Stimmung ziehen darf, dann geht es dir tatsächlich besser.«
»Das tut es, aber leider wächst mit zunehmender Genesung auch meine Langeweile. Ich fürchte, den Müßiggang nie gelernt zu haben.« Er konnte sich einen kleinen Seitenhieb auf seinen Vorgesetzten nicht verkneifen und fügte noch hinzu: »Natürlich ist es völlig unverständlich, dass Cannan und der Arzt darauf bestehen, dass ich weiter das Bett hüte.«
»Du scheinst dich doch recht gut zu beschäftigen.« Ich zeigte auf den obersten Pergamentbogen eines ganzen Stapels und ignorierte seine Bemerkung bezüglich Cannan und Bhadran. »Hast du schon viel gezeichnet?«
»Ein paar Sachen. Das einzig Gute ist, dass nur mein linker Arm getroffen wurde.«
»Darf ich sie sehen?«
»Wenn du möchtest«, antwortete er und klang ein wenig müde.
Ich griff nach dem Stapel und begann die Bilder durchzublättern. Als Sechsjährige war ich nicht in der Lage gewesen, das Talent hinter den Zeichnungen zu erkennen, die er zu meiner Unterhaltung angefertigt hatte, und so staunte ich jetzt über das, was ich sah. Auch wenn es sich nur um Skizzen handelte, so waren die Landschaften und Gebäude mit erstaunlicher Detailliertheit und unglaublich naturgetreu wiedergegeben. Die Ansicht einer großen, ausgedehnten Stadt von weit oben musterte ich eingehend.
»Ist das Hytanica?«, fragte ich und dachte mir gleichzeitig, wie überflüssig diese Frage war, doch seine Antwort überraschte mich.
»Das ist Cokyri.«
Ich nickte, weil ich darauf nichts zu sagen wusste. Wahrscheinlich hatte die lange Zeit, die er jüngst allein in den Bergen zugebracht hatte, das Land des Feindes in sein Bewusstsein gebracht.
»Die meisten der Bilder zeigen Cokyri«, sagte er geistesabwesend und lehnte den Kopf an die Kissen hinter sich.
Nachdem ich mir alle Zeichnungen angesehen hatte, legte ich die Pergamentbögen wieder an ihren Platz zurück und wollte schon eine Bemerkung zu seiner offensichtlichen künstlerischen Begabung machen, als mir ein weiteres Bild, das auf dem Nachttisch lag, ins Auge fiel.
»Was ist denn das?«, fragte ich und griff danach, noch bevor London ein Wort dazu sagen konnte. Da ich es nun schon in Händen hielt, erstarb jeglicher Protest, den er vielleicht hatte vorbringen wollen, doch dafür durchbohrte mich sein Blick.
Es war die Zeichnung einer hübschen, vielleicht zwanzig Jahre alten Frau, deren Züge mir seltsam vertraut erschienen.
»Das ist wunderschön, London«, sagte ich aufrichtig. »Wer ist sie?«
»Nur jemand, den ich einmal gekannt habe.« Seine Antwort war bewusst unbeteiligt und unverbindlich.
Ich sah ihn einen Moment lang an, und eine Unterhaltung mit Destari vor mehr als einem Jahr kam mir in den Sinn. Damals hatte Destari mir erzählt, dass London mit einem Mädchen adeliger Herkunft verlobt gewesen war, bevor die Cokyrier ihn gefangen genommen hatten. Man hatte ihn für tot gehalten, und die Eltern hatten das Mädchen gezwungen, einen anderen zu heiraten. Die Frau auf dem Bild, dessen war ich mir fast sicher, musste seine ehemalige Verlobte sein. Von welcher Frau sonst würde er ein Bild von so umwerfender Schönheit zeichnen?
London riss mich mit einem kurzen Lachen aus meinen Gedanken. »Was denn? Du bist eben nicht die einzige Frau in meinem Leben, Alera.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Es ist nur so, dass man daraus, wie du sie gezeichnet hast, fast sicher schließen kann, dass du sie geliebt haben musst.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und ich lief wegen
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