Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
Menschenfamilie.
Ich mietete mich in einem Hotel ein, stöpselte mich für den Fall, daß mich jemand erreichen wollte, ins Netz ein und duschte. Es war früher Abend, doch ich war müde. Trotzdem konnte ich nicht schlafen. Nachdem ich vielleicht eine Stunde lang die Decke angestarrt hatte, ging ich hinab, aß ein Sandwich und nahm mit Brimbury & Conn Verbindung auf.
»Ich bin eingetroffen«, sagte ich.
»Willkommen daheim, Mr. Benedict«, sagte ihre KI. »Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Ich brauche einen Gleiter.«
»Auf dem Dach Ihres Hotels, Sir. Ich klärte das bereits für Sie. Werden Sie morgen mit uns Kontakt aufnehmen?«
»Ja«, sagte ich. »Wahrscheinlich am späten Vormittag. Und vielen Dank.«
Ich ging hinauf, suchte mein Flugzeug, tippte den Ortskode von Gabes Haus ein, und fünf Minuten später erhob ich mich in Richtung Westen über die Stadt.
Auf den Promenaden und breiten Straßen drängten sich Schaulustige, von Gantnerlicht vom fallenden Schnee abgeschirmt. Auf den Tennisplätzen herrschte reger Betrieb, und Kinder spielten in den Teichen. Andiquar war des Nachts schon immer wunderschön gewesen, die Gärten, Türme und Höfe weich beleuchtet, der sich dahinschlängelnde Narakobo still und tief.
Während ich über diese friedliche Szene dahintrieb, berichtete das Nachrichtennetz von einem Angriff der Stummen auf ein Kommunikationsforschungsschiff, das der Peripherie zu nahe gekommen war. Fünf oder sechs Tote. Noch wußte niemand etwas Genaues.
Ich flog über die westlichen Ausläufer von Andiquar. Der Schnee fiel jetzt heftiger, und ich kippte die Rückenlehne und machte es mir in der Wärme des Cockpits bequem. Die Landschaft rollte ein paar hundert Meter unter mir hinweg und hinterließ ihre Spuren auf den Thermalanzeigern: Die Vororte brachen in Kleinstädte auf, Hügel erhoben sich, Wälder erschienen. Gelegentlich zog sich eine Straße über den Bildschirm, und als ich etwa zwanzig Minuten unterwegs war, überquerte ich den Melony, der, als ich Kind war, mehr oder weniger die Grenzen der menschlichen Besiedlung darstellte.
Man kann den Melony vom Schlafzimmer unter dem Dach von Gabriels Haus aus sehen. Als wir zuerst dorthin zogen, wand er sich durch geheimnisvolles, ungezähmtes Land. Eine Zuflucht für Geister, Räuber und Drachen.
Die bernsteinfarbige Warnblinklampe wies auf die bevorstehende Landung hin. Der Gleiter legte sich in die Kurve und ging tiefer. Der dunkle Wald war jetzt harmlos, gebändigt von Sportplätzen und Pools und geschwungenen Wegen. Ich hatte über die Jahre hinweg den Rückzug der Wildnis beobachtet, die Parks und Häuser und Hardwareläden gezählt. Und in dieser verschneiten Nacht flog ich darüber hinweg und wußte, daß Gabe gestorben war, und auch viel von dem, was er geliebt hatte.
Ich schaltete auf Handsteuerung um, zog über die Baumgipfel hinweg und sah, wie sich das Haus aus dem Sturm schälte. Es stand bereits ein Gleiter auf dem Landeplatz (Gabes, vermutete ich), und so setzte ich auf dem Rasen vor dem Haus auf.
Daheim.
Es war wahrscheinlich das einzige echte Heim, das ich je gekannt hatte, und es erfüllte mich mit Traurigkeit, es kahl und leer vor dem bleichen, bewölkten Himmel zu sehen. Laut der Überlieferung war in der Nähe Jorge Shale mit seiner Crew abgestürzt. Nur ein Historiker kann einem heutzutage sagen, wer als erster den Fuß auf Rimway setzte, doch jeder auf dem Planeten weiß, wer bei dem Versuch starb. Das Wrack zu finden war das erste große Projekt meines Lebens gewesen. Doch falls es überhaupt irgendwo dort draußen lag, war es mir entgangen.
Das Haus war einmal ein Landgasthaus gewesen, das Jägern und Reisenden Quartier geboten hatte. Der größte Teil des Waldlands war von großen Glashäusern und viereckigen Rasenflächen verdrängt worden. Gabe hatte getan, was er konnte, die Wildnis zu bewahren. Es war ein aussichtsloser Kampf gewesen, wie es bei allen Bemühungen, den Fortschritt aufzuhalten, der Fall ist. Während meiner letzten Jahre bei ihm war er zunehmend wütender auf die Unglücklichen gewesen, die sich in der Nachbarschaft niederließen. Und ich bezweifle, daß viele seiner Nachbarn traurig waren, als sie von seinem Tod hörten.
Das Schlafzimmer auf dem Dachboden lag ganz oben im Haus, in der dritten Etage. Die Läden seiner Doppelfenster waren geschlossen. Zwei Idalienbäume erstreckten sich vor ihnen; die Zweige des einen waren zu einem Hochsitz zusammengewachsen, den ich früher
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