Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
ein Gleiter. Das Bild der Tanner verschwand, und das Flugzeug erschien auf dem oberen Bildschirm. Es war schon spät und dunkel. Jacob schaltete die Außenbeleuchtung ein und erhellte den Weg zum Haus. Ich sah zu, wie die Pilotin das Cockpit verließ und leichtfüßig zu Boden sprang.
»Jacob, wer ist sie?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie wußte, wo die Kameras waren. Sie schaute direkt in eine hinein, während sie an ihr vorbeiging, nahm ihren Hut ab und schüttelte langes schwarzes Haar frei. Dann schritt sie zielsicher zur Veranda und kam die Treppe hinauf.
Ich wartete auf sie. »Guten Abend«, sagte ich.
Sie war groß, grauäugig, langbeinig und in einen olivbraunen Umhang gehüllt, der fast bis zu ihren Knien fiel. Ihre Gesichtszüge wurden teilweise von Schatten verborgen. Der Wind hatte aufgefrischt, und Schnee wirbelte um sie herum. »Sie müssen der Neffe sein«, sagte sie mit einem Tonfall, der verschwommene Mißbilligung andeutete. »Ich nehme an, er war auf der Capella ?« Ihre Stimme war rauh, und das flackernde Licht der Straßenlampe fing sich in ihren Augen.
»Kommen Sie bitte herein«, sagte ich.
Sie trat ein, sah sich schnell um, und ihr Blick glitt über den Steindämon. »Ich habe mir gedacht, daß er an Bord gewesen sein muß.« Sie legte den Umhang ab und hängte ihn mit einer Geste, die von Vertrautheit kündete, neben der Tür auf. Sie war nicht unattraktiv, aber ich konnte nichts Weiches in ihren Gesichtszügen ausmachen. Die Augen waren durchdringend, und sie streckte energisch das Kinn vor. Ausdrucksweise und Tonfall lagen nur einen Hauch von der Arroganz entfernt. »Mein Name ist Chase Kolpath.«
Wie sie es sagte, deutete an, daß ich den Namen kennen müsse. »Ich bin Alex Benedict«, sagte ich.
Sie musterte mich recht offen, legte den Kopf etwas schräg und zuckte die Achseln. Ich erkannte, daß sie enttäuscht war. »Ich stand in den Diensten Ihres Onkels«, sagte sie. »Er schuldet mir eine beträchtliche Geldsumme.« Sie verlagerte unbehaglich ihr Gewicht. »Es tut mir leid, dieses Thema zu einer schwierigen Zeit zur Sprache zu bringen, doch ich denke, Sie sollten es wissen.«
Sie wandte sich ab, womit sie eine weitere Diskussion des Themas unterband, und ging ins Arbeitszimmer voraus. Sie nahm einen Stuhl neben dem Kamin und begrüßte Jacob, der glatt und ohne Zögern erwiderte, sie sähe gut aus. Er stellte warme, mit Rum versetzte Fruchtsäfte zusammen.
Sie nippte an ihrem Glas, setzte es ab und streckte die Hände zum Feuer aus. »Es kommt einem ohne ihn hier komisch vor.«
»Ja. Das habe ich auch gedacht.«
»Was hat es zu bedeuten?« fragte sie plötzlich. »Wonach hat er gesucht?«
Die Frage verblüffte mich. Das war kein ermutigender Anfang. »Haben Sie mit ihm an dem Projekt gearbeitet?«
»Ja«, sagte sie.
»Lassen Sie mich dieselbe Frage stellen. Wonach hat er gesucht?«
Sie lachte. Es war ein sauberes, perlendes Lachen. »Dann hat er es Ihnen auch nicht gesagt?«
»Nein.«
»Und er hat es auch niemandem sonst gesagt?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Jacob müßte zumindest etwas darüber wissen.«
»Jacob hat eine Lobotomie verpaßt bekommen.«
Sie blickte amüsiert zum Monitor, der noch immer das Bild ihres Gleiters zeigte. »Sie meinen, niemand hat eine Ahnung, was er in diesen letzten paar Monaten getan hat?«
»Nicht, soweit ich es sagen kann«, entgegnete ich mit zunehmender Verwirrung.
»Aufzeichnungen«, sagte sie, so, wie man einem Kind etwas erklärt. »Es muß irgendwelche Aufzeichnungen geben.«
»Sie gingen verloren.«
Das wühlte sie auf. Sie lachte wie eine junge Wikingerfrau, aus vollem Hals, mit vorgezogenen Schultern, schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig, etwas zu sagen.
»Tja«, bekam sie zwischen den Lachkrämpfen heraus, »ich will verdammt sein. Aber das sieht ihm nur ähnlich.«
»Wissen Sie etwas? Irgend etwas?«
»Es hatte etwas mit der Tenandrome zu tun. Er hat mir gesagt, ich würde reich werden. Und er hat gesagt, alles, was er bislang im Leben getan habe, sei im Vergleich dazu unbedeutend. ›Es wird die Konföderation erschüttern‹, hat er gesagt.« Sie legte die Handflächen ans Kinn und schüttelte den Kopf. »Na ja, das ist die dümmste Sache, auf die ich mich je eingelassen habe.«
»Aber Sie gehörten dazu. Wie sollten Sie sich Ihren Anteil verdienen?«
»Ich bin eine Klasse-III-Pilotin. Kleine Schiffe, interstellar. Er hat mich für ein paar Forschungsarbeiten angeheuert und um ihn irgendwohin
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