Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
leer und abends viel zu still. Es war übertrieben weitläufig, wie nur ein amerikanisches Haus es sein kann. Die »originellen« Einfälle des Architekten: das doppelte Wohnzimmer, die sechs Kamine; und die kalte Pracht Lucys: die längst verwelkten Blumen aus dem teuren Astor-Blumengeschäft, die ungelesenen Bücher in goldbraunen Ledereinbänden. Es konnte einen die dreieinhalb Meter hohen Wände hochgehen lassen.
Die nächste Stunde verbrachte Shafer damit, sich einzureden, dass er nicht verrückt sei – insbesondere, dass er nicht abhängig sei. Erst vor kurzem war ein Arzt aus Maryland zu seinen Bezugsquellen für Medikamente hinzugekommen. Unglücklicherweise kosteten ihn die illegalen Rezepte ein Vermögen. Lange konnte das nicht so weitergehen. Lithium und Haldol sollten seine Stimmungsschwankungen dämpfen. Die Thorazine waren gegen akute Angstzustände, das Narcon hatte man ihm seiner Gefühlsschwankungen wegen verschrieben.
Die vielen Thramadol-Spritzen waren gegen irgendetwas anderes – gegen Schmerzen, unter denen er seit ewigen Zeiten litt.
Er wusste, dass es auch gute Gründe für Xanax, Companzine und Benadryl gab.
Lucy war bereits nach London geflüchtet. Sie hatte die Kinder mitgenommen, diese Verräter. Genau eine Woche nach Prozessende hatte das Miststück ihn verlassen. Der wahre Grund war ihr Vater. Er war nach Washington gekommen und hatte nicht mal eine Stunde mit Lucy geredet; danach hatte sie gepackt und ihren Mann verlassen – ganz das brave Töchterchen, das sie stets gewesen war. Ehe sie ging, hatte sie die Dreistigkeit besessen, Shafer zu erklären, sie habe nur aus Rücksicht auf ihren Vater und die Kinder zu ihm gehalten und dass ihre »Pflichten« jetzt beendet seien. Sie glaubte nicht – -wie ihr Vater –, dass er ein Mörder war, aber sie wusste, dass er ein Ehebrecher war, und das würde sie keinen Moment länger ertragen.
O Gott, wie sehr verachtete er dieses blöde Weibsstück. Ehe Lucy ging, hatte er ihr klargemacht, dass sie allein deshalb ihre -»Pflicht« erfüllt habe, damit er der Presse nicht ihre peinliche Medikamentensucht enthüllte, was er durchaus getan hätte – -und immer noch tun konnte.
Um dreiundzwanzig Uhr war er losgefahren, seine abendliche »Verdauungsfahrt«. Er fühlte sich unerträglich nervös und klaustrophobisch. Er fragte sich, ob er sich noch eine weitere Nacht – oder eine weitere Minute – unter Kontrolle halten konnte. Ihm juckte die Haut, und er litt unter ständigen Zukkungen. Er konnte nicht aufhören, mit dem Scheißfuß zu wippen.
Die Würfel brannten ihm ein verdammtes Loch in die Hose.
Seine Gedanken rasten in ein Dutzend gefährliche Richtungen -– alle schlimm, sehr schlimm. Er wollte, er musste jemanden töten. So fühlte er sich schon seit geraumer Zeit; das war sein schmutziges kleines Geheimnis. Die anderen Reiter kannten die Geschichte. Sie wussten sogar, wie alles angefangen hatte.
Shafer war ein tüchtiger, ordentlicher englischer Soldat gewesen, doch letzten Endes zu ehrgeizig, um in der Armee zu bleiben. Mithilfe von Lucys Vater war er zum MI6 versetzt worden. Er glaubte, beim Geheimdienst schneller Karriere zu machen.
Seine erste Dienststelle war Bangkok, wo er James Whitehead, George Bayer und schließlich Oliver Highsmith kennen lernte. Whitehead und Bayer arbeiteten mehrere Wochen mit Shafer, um ihn für die Sonderaufgabe zu schulen: als Meuchelmörder, ihren ganz persönlichen Mann für die schlimmsten blutigen Aufgaben. Während der nächsten zwei Jahre erledigte Shafer drei solche Aufträge in Asien, wobei er feststellte, dass er das Gefühl der Macht beim Töten ungemein liebte. Oliver Highsmith, der sowohl Bayer als auch Whitehead von London aus führte, erklärte ihm einmal, er solle den Akt des Tötens -»depersonalisieren«, ihn als ein Spiel sehen – und genau das hatte Shafer getan. Er hatte aufgehört, ein Mörder zu sein.
Shafer schaltete den CD-Player im Jaguar ein. Laut , um die vielen Stimmen zu übertönen, die in seinem Kopf tobten. Die alten Rockmusiker Jimmy Page und Robert Plant stimmten in seinem Auto einen Song an.
Shafer fuhr rückwärts aus der Auffahrt und dann nach Tracy Place hinunter, wobei er den Motor hochjagte. In dem Block zwischen seinem Haus und der Vierundzwanzigsten Straße hatte er schon fast neunzig Sachen drauf. Zeit für die nächste Selbstmordfahrt ?, überlegte er.
Plötzlich erschienen zuckende rote Lichter hinter ihm. Shafer fluchte, als der Streifenwagen der
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