Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
Flughafen – und deshalb würde sein erster Fahrgast an diesem Abend auch nie dort eintreffen. Shafer belauschte das Telefonat. Die Stimme des Mannes klang verblüffend kultiviert.
»Ich glaube, ich schaffe gerade noch den Flieger um einundzwanzig Uhr, Leonard. Delta fliegt doch genau jede volle Stunde, nicht wahr? Ich habe ein Taxi erwischt, dem Himmel sei Dank. Die meisten halten nicht in der Gegend, wo meine arme Mutter lebt, im Northeast. Und dann kommt da plötzlich ein uraltes klappriges Zigeunertaxi und hat Gott sei Dank für mich gehalten.«
Ach du Scheiße, der Kerl könnte mich identifizieren! Shafer verfluchte stumm sein Pech. Aber das gehörte zum Spiel: unglaubliche lichte Höhen und grauenvolle schwarze Tiefen. Jetzt musste er dieses Arschloch bis zum National Airport fahren.
Denn falls der Bursche verschwand, würde man ihn mit einem lilablauen Taxi in Verbindung bringen, einem »uralten klapprigen Zigeunertaxi«.
Shafer trat aufs Gaspedal und jagte zum Flughafen. Selbst um einundzwanzig Uhr gab es hier einen Stau. Wieder fluchte er stumm. Mittlerweile regnete es in Strömen, und mit Blitz und Donner war ein Gewitter aufgezogen.
Shafer bemühte sich, seine aufsteigende Wut und seine Missstimmung unter Kontrolle zu halten. Er brauchte fast vierzig Minuten, um den Terminal zu erreichen und den Fahrgast abzusetzen. Mittlerweile hatte er sich in eine andere Fantasievorstellung begeben, hatte einen gewaltigen Stimmungsumschwung erlebt. Wieder puschte er sich auf, trieb sich selbst in einen Zustand höchster Erregung.
Vielleicht hätte er Dr. Cassady doch besuchen sollen. Er brauchte mehr Tabletten, besonders Lithium. Heute Abend war es eine Achterbahnfahrt: rauf und runter, rauf und runter. Er wollte die Dinge so weit wie möglich bis an die Grenze treiben.
Er fühlte sich wie von Sinnen, verlor eindeutig die Kontrolle.
Wenn er in diesen Zustand geriet, war alles möglich. Das war der Knaller. Er reihte sich in die Schlange der Taxis ein, die auf eine Fahrt zurück nach Washington warteten.
Als er näher zur Spitze der Autoschlange kam, wurde der Donner heftiger. Blitze zuckten am Himmel hoch über dem Flughafen. Shafer sah, wie die potenziellen Opfer sich unter dem tropfenden Vordach drängten. Zweifellos würden wegen des Wetters Flüge verschoben oder ganz gestrichen. Er genoss das billige Melodram, die Spannung. Das Opfer du jour konnte jeder sein, von einem hochrangigen Manager bis zu einer abgearbeiteten Sekretärin, sogar eine ganze Familie, die auf dem Heimweg von einem Trip nach Disney World war.
Doch Shafer blickte kein einziges Mal direkt auf die Schlange potenzieller Opfer, als er Schritt um Schritt näher heranfuhr.
Jetzt hatte er sie beinahe erreicht. Nur noch zwei Taxis waren vor ihm. Er beobachtete die Schlange aus dem Augenwinkel.
Schließlich musste er doch einen raschen direkten Blick riskieren.
Es war ein hoch gewachsener Mann.
Wieder schaute Shafer unwillkürlich hin.
Ein Weißer, ein Geschäftsmann, trat von der Bordsteinkante und stieg ins Taxi, wobei er den Regen verfluchte.
Shafer musterte den Mann. Er war Amerikaner, Ende dreißig, selbstbewusst. Anlageberater vielleicht, oder Banker – so was Ähnliches.
»Wir können fahren , Meister, falls Sie in der Stimmung sind«, fuhr der Mann ihn an.
»Verzeihung, Sir«, sagte Shafer und lächelte servil in den Innenspiegel.
Dann ließ er die Würfel auf den Beifahrersitz fallen: Sechs!
Sein Herz begann zu hämmern.
Sechs bedeutete sofortige Aktion . Aber er befand sich immer noch innerhalb des National Airport; es herrschte starker Verkehr, und überall flackerten die roten Lichter der Polizei. Es war zu gefährlich – sogar für ihn.
Doch die Würfel hatten gesprochen. Ihm blieb keine Wahl.
Das Spiel war im Gange – jetzt .
Vor ihm leuchtete ein Meer roter Lichter. Autos überall. Wie konnte er den Burschen hier beseitigen? Shafer begann heftig zu schwitzen.
Er musste es tun! Darum ging es ja bei diesem Spiel. Er musste es jetzt tun. Er musste dieses Arschloch gleich hier auf dem Flughafen kaltmachen.
Er bog auf den nächsten Parkplatz ein. Nein, nicht gut. Er fuhr einen schmalen Weg entlang. Wieder zuckten Blitze über den Himmel. Das Gewitter schien den Wahnsinn, das Surreale dieses Augenblicks zu unterstreichen.
»Wo fahren Sie hin?«, fuhr der Geschäftsmann ihn wütend an und schlug mit der flachen Hand gegen die Rückenlehne.
»Das ist nicht die richtige Ausfahrt, Sie Blödmann!«
Shafer warf dem
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