Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
viele Flüge Verspätung hatten.
Noch ehe ich zum Haus in Forest Heights fuhr, hatte ich zwei Detectives zum Flughafen geschickt. Sie zeigten Fotos von Odenkirk herum, befragten Angestellte der Fluggesellschaften, Verkäufer in den Geschäften, Gepäckträger, Fahrdienstleiter der Taxiunternehmen und Taxifahrer.
Gegen achtzehn Uhr ging ich zur Gerichtsmedizin, um die Ergebnisse der Autopsie zu erfahren. Sämtliche Fotos und Zeichnungen des Tatorts waren ausgebreitet. Die Autopsie hatte zweieinhalb Stunden gedauert. Jede Körperöffnung Frank Odenkirks war mit peinlicher Sorgfalt ausgeschabt worden.
Man hatte ihm auch das Hirn herausgenommen.
Ich sprach mit der Gerichtsmedizinerin, als sie gegen halb sieben den Fall Odenkirk abschloss. Sie hieß Angelina Torres, und ich kannte sie seit Jahren. Wir beide hatten ungefähr zur selben Zeit bei der Polizei angefangen. Angelina war ein Spatz, keine einsfünfzig groß, und wog tropfnass wahrscheinlich nicht mal vierzig Kilo.
»Langer Tag, Alex?«, fragte sie. »Du siehst müde aus.«
»Für dich war’s auch ein langer Tag, Angelina. Aber du siehst gut aus. Klein, aber gut.«
Sie nickte, grinste und streckte die kleinen Arme über den Kopf. Dann stöhnte sie so, wie ich mich fühlte.
»Irgendwelche Überraschungen für mich?«, fragte ich, nachdem ich gewartet hatte, bis sie mit dem Recken und Seufzen fertig war.
Ich hatte zwar nichts erwartet, aber sie konnte mir interessante Neuigkeiten bieten. »Eine Überraschung«, erklärte Angelina. »Nachdem er tot war, wurde er sexuell missbraucht.
Jemand hatte Sex mit ihm, Alex. Unser Mörder scheint auf Frauen und Männer zu stehen.«
E he ich an diesem Abend nach Hause fuhr, brauchte ich eine Pause von diesem Mordfall. Ich dachte an Christine und fühlte mich sofort besser. Endlich mal keine mühsame Gehirnakrobatik. Ich schaltete sogar den Piepser ab. Die nächsten zehn, fünfzehn Minuten wollte ich nicht gestört werden.
Obwohl Christine in letzter Zeit nicht darüber gesprochen hatte, hielt sie meine Arbeit immer noch für zu gefährlich. Das Problem war, dass sie vollkommen Recht hatte. Manchmal machte ich mir Sorgen darüber, Damon und Jannie allein auf der Welt zurückzulassen – und jetzt auch noch Christine. Während ich über die vertrauten Straßen in der Nähe der Fünften durchs Southeast fuhr, überlegte ich, ob ich die Polizeiarbeit tatsächlich aufgeben könnte. Ich hatte mehrere Male daran gedacht, wieder als Psychologe in einer eigenen Praxis zu arbeiten, hatte jedoch nichts getan, um diese Idee zu verwirklichen.
Wahrscheinlich bedeutete das, dass ich es nicht wollte.
Nana saß auf der vorderen Veranda, als ich gegen halb acht nach Hause kam. Offensichtlich war sie eingeschnappt. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich bei ihr nur allzu gut. Sie schaffte es noch immer, dass ich mich wie ein Neun-oder Zehnjähriger fühle, der vor einer allwissenden Mutter steht.
Ich öffnete die Autotür. »Wo sind die Kinder?«, rief ich, noch ehe ich ausstieg. Ein zerbrochener Drache mit Batman und Robin darauf hing noch in einem Baum im Garten. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich ihn nicht schon vor Wochen heruntergeholt hatte.
»Ich habe die beiden ans Spülbecken gekettet, damit sie abwaschen«, erklärte Nana.
»Tut mir leid, dass ich nicht zum Abendessen gekommen bin«, sagte ich.
»Erklär das deinen Kindern«, meinte Nana mit düsterer Miene. Sie ist so feinfühlig wie ein Tornado. »Und erkläre es ihnen lieber gleich. Dein Freund Sampson hat vorhin angerufen.
Ebenso dein Landsmann Jerome Thurman. Es hat weitere Morde gegeben, Alex. Falls es dir nicht aufgefallen ist – ich habe den Plural benutzt. Sampson wartet am so genannten Tatort auf dich. Zwei Leichen drüben in Shaw, ausgerechnet bei der Howard-Universität. Zwei schwarze Mädchen wurden ermordet. Es hört nicht auf, stimmt’s? Im Southeast hört es nie auf.«
Nein, es hört nie auf.
D er Tatort war ein altes baufälliges Backsteingebäude an einem üblen Abschnitt der S Street in Shaw. Viele Studenten und ein paar junge Akademiker, meist aus der Mittelschicht, wohnten weiter die Straße hinauf. In letzter Zeit war die Prostitution hier zu einem Problem geworden. Laut Sampson waren die beiden ermordeten Mädchen Prostituierte gewesen, die gelegentlich in der Gegend anschafften, hauptsächlich aber drüben in Pentworth.
Ein einziger Streifenwagen und ein Notarztwagen parkten am Tatort. Ein uniformierter Polizist stand auf der
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