Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
sie zu finden, Liebes. Bis jetzt haben wir einen Zeugen entdeckt.«
»Aber sie könnte doch tot sein, Daddy.«
»Ich werde dir das Beste vom Tod und dem Sterben erzählen, ja?«, sagte ich. »Das Beste, das ich weiß, Jannie. Eigentlich ist es das Einzige.«
»Man geht weg und bleibt dann für immer bei Jesus«, sagte Jannie. So wie sie es sagte, war ich nicht sicher, ob sie wirklich daran glaubte. Es klang wie eine von Nanas »Gospel-Wahrheiten«, oder sie hatte es vielleicht in der Kirche gehört.
»Ja, diese Gewissheit kann sehr tröstlich sein, Baby. Aber ich habe an etwas anderes gedacht. Vielleicht ist es das Gleiche, aber von einem anderen Gesichtspunkt aus.«
Ihr intensiver Blick bannte meine Augen. »Du kannst es mir sagen, Daddy. Bitte. Ich möchte es gern hören. Das interessiert mich sehr.«
»Gut. Es ist nicht schlimm, und es hilft einem, wenn jemand stirbt. Stell dir Folgendes vor: Wir kommen ganz leicht ins Leben – von irgendwoher, aus dem Universum, von Gott.
Warum sollte es da schwieriger sein, von hier wegzugehen?
Wir kommen an einen schönen Ort, und wir gehen wieder fort, an einen anderen schönen Ort. Macht das Sinn für dich, Jannie?«
Sie nickte und blickte mir weiterhin tief in die Augen. »Ich glaube, ich verstehe es«, flüsterte sie. »Es ist wie Gleichgewicht halten, nicht?«
Sie machte eine kurze Pause, dachte nach. »Aber Christine ist nicht tot, Daddy«, sagte sie schließlich. »Das weiß ich. Sie ist nicht tot. Sie ist noch nicht zu diesem schönen Ort gegangen. Deshalb gib die Hoffnung nicht auf.«
C harakter und Eigenschaften von Tod sind den Meinen sehr ähnlich, dachte Shafer, als er auf der I-95 nach Süden raste.
Tod war nicht brillant, aber stets gründlich, und am Ende siegte er immer.
Als der schwarze Jaguar an den Ausfahrten mehrerer kleinerer Städte vorüberjagte, überlegte Shafer, ob er sich jetzt erwischen lassen sollte. Ob er es brauchte, jetzt entlarvt zu werden.
Ob er nun allen sein wahres Gesicht zeigen musste. Boo Cassady glaubte, dass er sich versteckte, sogar vor ihr, aber was noch wichtiger war: vor sich selbst. Vielleicht hatte sie Recht.
Vielleicht wollte er, dass Lucy und die Kinder sahen, wer er wirklich war. Und die Polizei. Aber vor allem der verklemmte und scheinheilige Mitarbeiterstab der Botschaft.
Ich bin Tod – ja, der bin ich. Ich bin ein vielfacher Mörder – ja, das bin ich. Ich bin nicht mehr Geoffrey Shafer. Vielleicht war ich es nie. Aber wenn ich Shafer war, ist es verdammt lange her.
Shafer hatte immer schon eine bösartige, rachsüchtige Ader gehabt. Sie schien ihm angeboren zu sein. Er erinnerte sich, dass er schon so gewesen war, als er in der Jugend mit der Familie durch Europa, Asien und wieder zurück nach England gereist war. Sein Vater war beim Militär gewesen und zu Hause ein richtig »harter Brocken«. Er hatte Geoffrey und seine zwei Brüder oft geschlagen, aber längst nicht so oft wie ihre Mutter, die bei einem Sturz starb, als Shafer zwölf gewesen war.
Geoffrey Shafer war als Junge sehr groß für sein Alter und einer von der rauen Sorte, ein richtiger Schläger. Die anderen Jungs hatten Angst vor ihm, sogar seine Brüder, Charles und George; sie hielten Geoffrey für »zu allem fähig«. Und das war er.
In seinen Jugendjahren bereitete nichts und niemand ihn auf den Mann vor, zu dem er nach seinem Eintritt beim MI6 wurde. Erst beim Geheimdienst fand er heraus, dass er imstande war, einen anderen Menschen zu töten – und dass er es genoss.
Er hatte seine wahre Berufung, seine wahre Leidenschaft im Leben erkannt. Er war der härteste aller harten Burschen; er war der Tod.
Shafer fuhr auf der Interstate weiter nach Süden. Zu dieser späten Stunde herrschte nur wenig Verkehr; hauptsächlich Laster, die nach Florida unterwegs waren, wie er vermutete.
Im Geist verfasste er eine Botschaft an seine Mitspieler:
Heute fährt Tod nach Fredericksburg in Maryland. Eine gut aussehende siebenunddreißigjährige Frau wohnt dort mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter, die ihr Spiegelbild sein könnte.
Die Frau ist geschieden, eine Kleinstadt-Juristin, eine Staatsanwältin. Die Tochter ist eine brillante Schülerin und Cheerleader beim Football-Team. Beide Frauen werden schlafen. Der Tod zieht nach Maryland, weil es hier in Washington derzeit zu gefährlich ist. (Ja, ich habe mir eure Warnung zu Herzen genommen.) Die Washingtoner Polizei sucht nach dem Jane-Namenlos-Mörder. Eine geachtete Polizistin, Patsy Hampton,
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