Alex Cross 07 - Stunde der Rache
hat.«
»Absolut erstaunlich«, stimmte ihm der Pathologe zu und klopfte Dr. Pang anerkennend auf den Rücken. Dann schaute er Jamilla und mich an. »Wie heißt es so schön? ›Fang den Tiger, wenn du kannst.‹ In San Francisco dürfte es nicht übermäßig schwierig sein, einen Tiger zu finden.«
Das große weiße Tigermännchen stieß eine Art gedämpften Pfeifton aus, der aus der Tiefe seines Rachens kam. Der Klang war nahezu überirdisch. Vögel flogen von der Zypresse neben ihm auf. Kleine Tiere huschten so schnell sie konnten davon. Der Tiger war zwei Meter vierzig lang, muskulös und wog zweihundertsechzig Kilo. Unter normalen Umständen wären seine Beute Schweine, Rehe, Antilopen oder Wasserbüffel gewesen. Aber in Kalifornien gab es keine normalen Umstände. Aber es gab stattdessen jede Menge Menschen.
Die Raubkatze bewegte sich geschmeidig. Der kraftvolle Körper setzte mühelos zum Sprung an. Der junge blonde Mann machte nicht einmal den Versuch, sich zu wehren.
Der Tiger riss den Rachen auf und umschloss den Kopf des
Mannes. Die Kiefer waren kräftig genug, um den Schädel
mühelos zu pulverisieren.
»Stopp! Stopp! Stopp!«, schrie der Mann.
Erstaunlicherweise ließ der Tiger sofort von ihm ab. Einfach so. Auf einen mündlichen Befehl hin.
»Du gewinnst.« Der blonde Mann lachte und tätschelte den Tiger liebevoll am Kopf.
Dann drehte der junge Mann sich scharf nach links. Seine Bewegungen waren nahezu genauso schnell und geschmeidig wie die der Raubkatze. Jetzt griff der Mann den Tiger an und attackierte ihn an der empfindlichen weißen Unterseite. Er biss ihn ins Fell. »Ich hab dich, großes Baby! Du verlierst. Du bleibst mein Liebessklave.«
William Alexander stand in einiger Entfernung und schaute seinem jüngeren Bruder mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht zu. Michael war ein wunderschöner Kindmann, unglaublich anmutig und athletisch. Er trug ein schwarzes T-Shirt und hellblaue Shorts. Er war einsachtundachtzig groß und wog dreiundachtzig Kilo. Er war makellos. Eigentlich traf das auf
beide zu.
William ging weiter und schaute hinaus auf die grünen Berge in der Ferne. Er war sehr gern hier draußen. Er liebte die Schönheit und Einsamkeit und die Freiheit, alles tun zu können, was er wollte.
Er war tief im Innern ganz still – immer noch beherrschte er diese Kunst.
Als er und Michael kleine Jungen waren, war die ganze Gegend hier eine Kommune. Ihre Eltern waren Hippies gewesen, Experimentierer. Sie liebten die Freiheit und konsumierten sehr viele Drogen. Sie hatten die Jungs gelehrt, dass die Welt da draußen nicht nur gefährlich sei, sondern dass auch alles völlig falsch sei. Ihre Mutter hatte William und Michael beigebracht, dass es eine gute Sache war, mit jedem, selbst mit ihr, Sex zu haben, solange es in beiderseitigem Einverständnis geschah. Die Jungs hatten mit Mutter und Vater und vielen anderen in der Kommune geschlafen. Ihr Code persönlicher Freiheit hatte ihnen schließlich zwei Jahre in einem Jugendgefängnis Ebene IV eingebracht. Sie waren wegen Drogenbesitzes verhaftet worden, aber hinter Gitter kamen die Brüder wegen schwerer Körperverletzung. Vermutlich waren sie in weitaus schwerere Verbrechen verwickelt, doch konnte man ihnen nichts beweisen.
Während William vom Fuß des Hügels über das Land schaute, dachte er über die Vorstellung des ungezügelten Verstandes nach. Tag für Tag ließ er mehr von dem schäbigen Gepäck seines vergangenen Lebens hinter sich. Bald würde er keine falsche Moral oder Ethik haben, auch keine dieser blödsinnigen Hemmungen, die in der zivilisierten Welt gelehrt wurden. Er kam der Wahrheit ständig näher. Ebenso Michael. William war zwanzig. Michael erst siebzehn.
Seit fünf Jahren mordeten sie gemeinsam, und sie wurden darin immer besser.
Sie waren unbesiegbar. Ohne jegliche Moral.
11
A n diesem Abend jagten die Brüder in der Stadt Mill Valley, im Marin County. Die Gegend war wunderschön. Kleine Berge inmitten üppiger gesunder Nadel- und Eukalyptusbäume. Das Haus aus Redwood war knapp hundert Meter entfernt. Es lag auf einem steilen steinigen Abhang, den die Brüder mit Leichtigkeit hinaufkletterten. Ein mit Ziegel belegter Weg führte zum Eingang mit der schweren Doppeltür aus Holz.
»Wir müssen ein Weilchen weggehen«, sagte William zu Michael, ohne sich umzudrehen. »Der Sire schickt uns auf eine Mission. San Francisco war nur der Anfang.«
»Das ist hervorragend«, sagte Michael und lächelte.
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