Alex Cross - Cold
alles einen Sinn, den ihr im Moment noch nicht sehen könnt. Habt ihr jemals daran gedacht?
Ich weiß, dass Ethan und Zoe dieses Schicksal nicht verdient haben, aber andererseits ich auch nicht. Glaubt ihr vielleicht, ich wäre jetzt nicht viel lieber irgendwo anders, irgendwo, wo mir nichts auf der Seele liegt, was unbedingt gesagt werden muss? Wenn mir doch bloß so ein Glück beschieden wäre!
Also dann, bitte sehr. Ihr wollt wissen, was ich denke, während ich das hier tue? Ich verrate es euch. Die Antwort ist ganz einfach. Ich denke an meinen Sohn. Meinen geliebten Sohn.
Und woran denkt ihr ?«
Stopp.
64
Ryan Townsend war ein zappeliges kleines Bürschchen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich saß er eingeklemmt zwischen einem Kriminalpolizisten und seinen Eltern, und alle starrten ihn an. Seine Beine waren während des ganzen Gesprächs ununterbrochen in Bewegung.
Ein halbes Dutzend Telefongespräche waren nötig gewesen, bis der Kongressabgeordnete Townsend und seine Frau schließlich eingewilligt hatten, dass ich mit ihrem Sohn sprechen konnte. Ausschließlich zu ihren Bedingungen natürlich. Also fand ich mich am Samstagvormittag um 8.30 Uhr in ihrem weitläufigen Haus mit Mansardendach in der Thirteenth Street in Georgetown ein.
»Es dauert bestimmt nicht lange«, sagte ich gleich als Erstes zu Ryan. »Das Protokoll des Gesprächs mit den FBI-Agenten habe ich mir schon durchgelesen. Da dreht es sich ja hauptsächlich um den Streit zwischen dir und Zoe am Morgen der Entführung...«
»Das war kein Streit«, unterbrach mich der Kongressabgeordnete. Er und seine Frau thronten mir gegenüber auf einer gepolsterten Sitzbank mit geschwungenen Beinen. »Bei allem gebotenen Respekt, aber Zoe hat Ryan mit einem Buch geschlagen, sodass er Nasenbluten hatte. Nur damit wir uns richtig verstehen.«
Ryan drückte sich noch etwas tiefer in seinen Sessel. Seine nackten Füße scheuerten noch ein bisschen schneller über die Walnussdielen.
»Also gut«, sagte ich. »Was mich aber viel mehr interessieren würde, Ryan, ist die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Was war denn der Auslöser für die Unstimmigkeiten zwischen dir und Zoe?«
»Ist das denn so wichtig?«, wollte Mrs. Townsend jetzt wissen. »Sie wollen doch gewiss nicht unterstellen, dass Ryan irgendetwas mit der Entführung zu tun hat, oder?«
»Nichts dergleichen«, erwiderte ich. »Ich versuche lediglich, so viel wie möglich über Ethan und Zoe in Erfahrung zu bringen. Und ich glaube, dass Ihr Sohn dazu ein paar Dinge beitragen kann, die wir von sonst niemandem erfahren können.«
Das war der Grund, weshalb ich mich mit Ryan sehr gerne unter vier Augen unterhalten hätte, aber für seine Eltern kam das unter keinen Umständen infrage. Sie hatten das Recht, dabei zu sein, und nicht die Absicht, darauf zu verzichten.
»Du kannst es ruhig sagen, Ryan«, sagte sein Vater jetzt. »Wir haben absolut nichts zu verbergen. Beantworte also die Frage.«
Ryan holte tief Luft und stieß sie mit geblähten Backen wieder aus. »Zoe hat angefangen«, sagte er. »Letztes Jahr haben wir einen Ausflug gemacht, zum Air- and Space-Museum, und da habe ich mein Handy im Bus liegen lassen. Dann hat sie so eine blöde SMS von mir gekriegt... also, nicht von mir natürlich. Aber von meinem Handy. Da ist sie ausgeflippt.«
»Liebling, ›ausgeflippt‹ sagt man nicht.« Mrs. Townsend lächelte mich ein wenig unsicher an.
Ryan verdrehte die Augen. Der Kongressabgeordnete sah auf sein BlackBerry.
»Jedenfalls hat sie mich total angemotzt deswegen und hat mir nicht geglaubt, dass ich es gar nicht war. Da war’s mir dann auch egal. Wenn sie nicht will... Aber seither hat sie mich irgendwie auf dem Kieker.«
Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich die ganze Wahrheit war, aber noch wichtiger war mir, es aus Ryans Mund zu hören. Seine Worte, alle Einzelheiten, so wie er sie abgespeichert hatte.
»Weißt du noch, was in der SMS gestanden hat?«, fragte ich ihn.
»Ich hab sie nicht geschrieben«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Ich schwöre!«
»Natürlich nicht. Ich möchte doch nur hören, was sich zugetragen hat«, sagte ich. »Aus deinem Mund.«
»Ryan, gib dem Polizisten eine Antwort. Weißt du, was in der SMS gestanden hat? Ja oder nein?«, schaltete sich der Kongressabgeordnete ein.
Zum ersten Mal schaute Ryan mir direkt in die Augen. Er wickelte sich die Kapuzenschnur seines Branaff-School Sweatshirts um den Finger
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