Alex Cross - Cold
die geschlossene Tür hindurch. Was überlegte er jetzt gerade?
»Dürfte ich vielleicht reinkommen?«, sagte ich dann.
»Oh... äh... ja, na klar«, meinte er, als hätte er daran gar nicht gedacht. »Ich hab gerade einen Kaffee aufgesetzt. Möchten Sie eine Tasse?«
»Nein, danke. Ich will Sie nicht lange aufhalten.«
Ich trat ein, und er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ich will nur schnell die Kaffeemaschine ausschalten. Machen Sie sich’s bequem.«
Ich sah mich um, während er in der Küche verschwand.
»Muss ja echt ätzend sein, am Wochenende zu arbeiten«, rief er mir zu. »Das ist das Gute an meinem Job. Wenigstens habe ich einen regelmäßigen Dienstplan.«
»Mm-hmm«, quetschte ich hervor, während ich seine Post durchging. Sie lag auf einem Beistelltischchen. Überwiegend Rechnungen, überwiegend ungeöffnet. In einem Wandschränkchen mit allerhand sinnlosem Nippes standen auch ein paar verstaubte Salz- und Pfefferstreuer. »Apropos Dienstplan, haben Sie eigentlich Aufzeichnungen über die genauen Arbeitszeiten der Mitarbeiter aus der Hausmeisterei?«, erkundigte ich mich.
O’Shea gab keine Antwort. Der Sportreporter im Fernsehen stieß gerade einen anerkennenden Schrei aus. Und ich wusste, dass etwas nicht stimmte.
»George?«
Ich ging in die Küche. Sie war leer. Kein George weit und breit. Die Hintertür stand sperrangelweit offen, und ich sah, wie George O’Shea am anderen Ende seines Rasens gerade über den Maschendrahtzaun kletterte, der sein Grundstück von der Straße trennte.
Der Drecksack wollte abhauen.
66
Nichts macht mir weniger Spaß als eine Verfolgungsjagd, auf die ich keine Lust habe. Als ich eine halbe Sekunde später zu George O’Sheas Haustür hinausstürmte, habe ich vermutlich seine Fliegengittertür aus den Angeln gerissen.
O’Shea war ein ziemlicher Riese. Die Schüler in Branaff nannten ihn hinter seinem Rücken Hagrid. Aber er war erheblich schneller, als er aussah. Bis ich mich an die Verfolgung machen konnte, hatte er schon einen halben Straßenzug hinter sich gebracht. Er musste einen guten Grund haben, so zu rennen.
»Bleiben Sie stehen, George!«
Ein Typ, der gerade die Blätter in seinem Vorgarten zusammenharkte, hatte bereits sein Handy gezückt. »Rufen Sie die Polizei!«, schrie ich ihm im Vorbeilaufen zu. Aber zuerst machte er noch ein Foto von mir.
Zwei Kinder, die auf dem Bürgersteig Fahrrad fuhren, brüllten mich an und traten wie verrückt in die Pedale, versuchten mitzuhalten.
Die Straße endete in einer Sackgasse. O’Shea huschte zwischen zwei Häusern hindurch.
Als ich ihn wieder zu sehen bekam, versuchte er gerade, über einen hohen Holzzaun am Ende eines Gartens zu klettern. Er musste ein paarmal hochspringen, bis er den oberen Rand zu fassen bekam und anfangen konnte, sich nach oben zu ziehen.
Dann brach das Brett, an dem er sich festgeklammert hatte, und er rutschte ein Stück nach unten. Ich hatte ihn.
Ich erwischte ihn am Knöchel, bevor er sich auf die andere Seite des Zauns wuchten konnte, und zerrte ihn mit roher Gewalt nach unten.
Er fiel, aber er riss mich mit sich.
Und damit war er noch nicht fertig.
Ich hatte die Handschellen schon in der Hand, da stemmte O’Shea sich auf ein Knie und rammte mir den Ellbogen ans Kinn. Mein Kopf wurde nach hinten gerissen. Ich schmeckte Blut. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass mein rechter Haken ein bisschen mehr Wucht und Schwung bekam als ursprünglich geplant. Genug jedenfalls, um ihn wieder auf dem Hintern landen zu lassen.
Dieses Mal zog ich meine Glock.
»Umdrehen, los, auf den Bauch! Hände über den Kopf!«, herrschte ich ihn an.
Er wirkte wie halb weggetreten. Selbst jetzt noch versuchte er, mich anzugreifen, aber nur, bis er die Pistole sah, wenige Zentimeter vor seiner Nase.
»Nicht, George, bitte... tun Sie’s nicht.«
Mit einem Mal schien jeder Hauch von Widerstandsgeist aus seinem Körper zu weichen. Sogar sein Gesicht erschlaffte, und er sank zurück auf den Boden.
Als ich ihm Handschellen anlegte, brach er in Tränen aus.
»Was habe ich nur getan?«, hörte ich ihn immer wieder sagen. »O Gott, was habe ich nur getan?«
Genau das war auch meine Frage.
67
Noch während wir in meinem Auto saßen, fing er an, abzustreiten und zu leugnen, und so ging es auch in den folgenden Stunden weiter.
O’Shea wurde sofort in die Obhut des FBI übergeben. Ich chauffierte ihn persönlich durch die Einsatzschleuse am Seiteneingang der
Weitere Kostenlose Bücher