Alex Cross - Cold
starrte zum Fenster hinaus und fummelte geistesabwesend an dem goldenen Kruzifix herum, das an ihrer Halskette hing. Sie war nervös, das spürte ich. Bis jetzt wusste sie lediglich, dass ich ihr ein paar Fragen über ihren Exmann stellen wollte. Also warum war sie so zappelig?
»Dann sind Sie also nicht gerade als Freunde auseinandergegangen«, sagte ich.
»Nein. Nachdem unser Sohn Zachary tot war, ist es zwischen uns ziemlich... schwierig geworden.«
»Darf ich fragen, woran er gestorben ist?«
Sie lächelte, so wie Menschen lächeln, wenn sie versuchen, nicht zu weinen. »Die offizielle Todesursache war seine gravierende Unterernährung«, erwiderte sie. »Aber warum seine Organe den Dienst verweigert haben, auf diese Frage haben wir nie eine Antwort bekommen. Wir sind immer nur von einem Spezialisten zum nächsten geschickt worden.«
»Das muss wirklich ein schlimmer Albtraum für Sie beide gewesen sein. Es tut mir sehr leid«, sagte ich.
Sie holte eine rote Lederbrieftasche aus ihrer Handtasche, klappte sie auf und zeigte mir das Bild eines sehr süßen kleinen Jungen in Schuluniform. Die dunklen Haare und die blassblauen Augen hatte er eindeutig von Rodney Glass. Ich empfand tiefes Mitgefühl mit den Eltern.
»Er wollte Arzt werden, genau wie sein Vater«, sagte sie. »Beziehungsweise, wie es sein Vater werden wollte. Rod war mitten im Medizinstudium, als Zach krank wurde. Das mit der Krankenpflege sollte eigentlich nur eine vorübergehende Sache sein. Seltsam, welche Wege das Leben manchmal geht.«
»Und danach wurde es zwischen Ihnen beiden schwierig, haben Sie gesagt?«
Sie nickte und steckte das Bild wieder ein. »Rod hat sich verändert. Ich meine... um fair zu bleiben, wir haben uns beide verändert. Aber er ist so... paranoid geworden. Und so zornig, so wahnsinnig zornig. Ich glaube, dass er in gewisser Hinsicht sich selbst die größten Vorwürfe gemacht hat. Weil er es nicht geschafft hat, der Arzt zu werden, der seinem eigenen Sohn das Leben retten konnte, verstehen Sie? Aber nach außen hin hat er allen anderen die Schuld daran gegeben.«
»Und wenn Sie sagen, allen...«
»Dann meine ich wirklich alle«, erwiderte sie. »Den Ärzten, dem Krankenhaus, dem ganzen chaotischen Gesundheitssystem. Wir hatten zu dem Zeitpunkt keine Krankenversicherung. Sie können sich also vorstellen, wie das ausgesehen hat. Wenn Sie ihn damals gefragt hätten, er hätte vermutlich gesagt, dass das System schuld an Zachs Krankheit ist.«
Dann plötzlich verstummte sie und drehte sich zu mir um, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen. »Was hat er eigentlich angestellt? Steckt Rod irgendwie in Schwierigkeiten?«, wollte sie wissen.
Ich versuchte schon die ganze Zeit, sie einzuschätzen, weil ich wissen wollte, wie viel ich ihr sagen konnte und wann ich besser den Mund halten musste. Aber ich wollte hier nicht Weggehen, bevor ich alles gehört hatte, was es zu hören gab. Darum ging ich jetzt ganz bewusst ein Risiko ein.
»Molly, ich habe Ihnen gesagt, dass Rodney seit drei Jahren in Washington lebt. Aber ich habe Ihnen nicht gesagt, dass er den Großteil dieser drei Jahre an der Branaff School gearbeitet hat.«
Sie sah mich verständnislos an. Anscheinend konnte sie damit nicht das Geringste anfangen.
»Das ist die Schule, die auch Zoe und Ethan Coyle besuchen. Die Schule, an der sie entführt worden sind.«
»Moment mal«, stieß sie hervor. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie Rod verdächtigen, etwas mit dieser Entführung zu tun zu haben?«
»Im Prinzip steht jeder unter Verdacht, der an dieser Schule arbeitet«, entgegnete ich. Das war die Antwort, die ich geben musste, aber sie verstand genau, was damit gemeint war.
Ihre gesamte Körperhaltung änderte sich. Mit einem Mal kam Sie mir doppelt so zitterig und nervös vor wie zuvor. Ihre Finger tasteten nach dem Kruzifix, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich kann es einfach nicht glauben. Nein. Ich meine... er kann doch nicht allen Ernstes... oder etwa doch?«
»Ich weiß es nicht, Molly«, sagte ich leise. »Könnte er?«
Es dauerte lange, bis sie mir antwortete. Sie neigte den Kopf und machte etliche Sekunden lang die Augen zu. Sie befühlte das Kruzifix, und ich fragte mich, ob sie vielleicht betete. Und ob sie womöglich selbst in die Sache verwickelt war.
Als sie wieder aufsah, zitterte sie am ganzen Körper.
»Ich muss Ihnen etwas sagen. Etwas Wichtiges... vielleicht.«
86
»Es war ein paar Monate nach Zacharys Tod«,
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