Alex Delaware 25 - Tödliche Lektion
verlassen, und ich habe ihn erst wieder gesehen, als ich am nächsten Tag von der Arbeit heimgekommen bin.«
»Wo war er?«
»Er sagt nie, wohin er geht.«
»Er wollte keine Nachhilfe, ist aber hingegangen.«
»Er ist ein braver Junge«, sagte Emilio Mendoza.
»Wie hat es ihm gefallen?«
»Er hat gesagt, es wäre Zeit- und Geldverschwendung, er wäre ihr egal, sie wäre bloß scharf auf das Geld. Sie würde nur dasitzen, während er liest und schreibt, und dann gibt sie ihm noch zusätzliche Hausaufgaben, die er sowieso nie und nimmer machen würde.« Mendoza blickte zum Himmel auf.
»Hat ihn sonst noch irgendetwas an ihr gestört?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht.« Er ergriff den Becher mit beiden Händen und drückte Dellen in die Pappe.
»Was war es, Mr. Mendoza?«
»Schauen Sie«, sagte er, »Martin hat manchmal eine blühende Fantasie. Einmal war er zum Beispiel felsenfest davon überzeugt, dass sich eine von Gisellas Freundinnen für ihn interessiert. Dem war aber nicht so. Gisella hat ihm das dann auch gesagt, und sie hatten einen Riesenstreit.«
»Martin hat sich in Bezug auf Ms. Freeman irgendetwas zusammengereimt, das Ihrer Meinung nach nicht stimmt.«
»Er meinte, sie würde ihn ständig anfassen. Am Arm und an der Hand, alles ganz harmlos. Ich sage: ›Was ist da schon groß dabei, sie will nur nett sein.‹ Aber er meint: ›Was zum Teufel hat Antatschen mit Englisch zu tun?‹ Ich sage: ›Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, dabei will sie dir bloß helfen.‹«
»Ms. Freeman hat Nachhilfe in Englisch und Geschichte gegeben«, sagte ich. »Was ist mit Martins Noten in Naturwissenschaften und Mathe?«
»In Naturwissenschaften – Biologie – ist er besser, hat lauter Zweien gekriegt. Er schreibt nicht gern. Hat gesagt, Ms. Freeman wäre dahintergekommen, und deswegen gäbe sie ihm zusätzliche Schreibaufgaben. Worauf ich gesagt habe, sie versucht nur da zu helfen, wo er auch Hilfe benötigt.«
»Danach ist er abgehauen.«
»Ganz recht«, sagte Mendoza. »Er ist ein guter Junge, bitte glauben Sie nicht, dass er irgendetwas angestellt hat. Die ganze Sache mit ihr – Ms. Freeman –, da ist nichts weiter dabei. Er war bloß drei-, viermal dort. Martin ist ein braver Junge, auf dem sehr viel Druck lastet. Vielleicht war es falsch, dass ich ihn auf die Windsor gebracht habe. Meine Frau glaubt das jedenfalls.«
Er dachte kurz nach. »Nein, ich denke immer noch, dass es die richtige Entscheidung war. Man wächst mit seinen Aufgaben. Ohne eine richtige Herausforderung im Leben, endet man wie ich. Man bindet sich eine Fliege um und bedient reiche Leute, die einen anschauen, als würde man zum Mobiliar gehören. Ich muss jetzt gehen, bitte sagen Sie nicht, dass Sie noch mehr wissen müssen. Ich komme sonst zu spät.«
22
Mendozas weißer Hyundai fuhr zum Pacific Coast Highway.
»Am Anfang wollte er seinen Sohn beschützen, aber am Ende hat er trotzdem ein paar interessante Informationen geliefert. So wie ich die Sache sehe, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Elise hat Martin angemacht, was er vollkommen daneben fand. Woraufhin sie sauer wurde, weil er sie verschmäht hat, und dann war er angefressen, weil sie sauer war. Die Sache ist eskaliert, und Martin rastet vollkommen aus. Oder aber er ist ihren Reizen erlegen, sie hat ihm jedoch das Gefühl gegeben, dass er nicht gut genug für sie ist. Vielleicht hat sie auch mit ihm geflirtet, ihn später aber zurückgewiesen.«
»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Er hat nichts mit ihrer Ermordung zu tun.«
»Er ist abgehauen, Alex. Das ist typisch für ihn. Wenn’s ihm zu brenzlig wird, nimmt er die Beine in die Hand.«
»Wie du schon gesagt hast, passt ein Junge, dem leicht die Sicherung durchbrennt, nicht zu der sorgfältigen Planung, die bei diesem Mord im Spiel war. Und laut der Aussage seines Vaters ist Martin nicht gerade jemand, der vorausschauend handelt. Ganz im Gegenteil: Er ist impulsiv.«
»Stimmt, aber ich muss darauf hören, was mein Opfer mir sagt, selbst bei einer notorischen Lügnerin wie Elise. Martin hat ihr Angst gemacht, und zwar so viel, dass sie Trey Franck davon erzählt hat. Wird höchste Zeit, dass wir diesen Jungen finden.«
Er suchte Gisella Mendozas Nummer in seinem Block heraus.
»Ms. Mendoza? Hier spricht Lieutenant Sturgis von der Polizei in Los Angeles. Ihre Eltern machen sich Sorgen um Ihren Bruder Martin, und ich will feststellen, wo er ist … Ja, das hat mir Ihr Vater
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