Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
uns auch nicht scheiden lassen. Lohnt sich ja nun nicht mehr.« Wieder dieses Lachen, bei dem es einem kalt den Rücken runterlief. »Und wissen Sie, was ich glaube? Wenn ich nicht die meiste Zeit unterwegs gewesen wäre …«
Er schloss die Augen und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Wut oder Schmerz oder vielleicht auch beides ausdrückte. »Im Grunde haben wir nie zueinander gepasst. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.«
»Kommen wir zu Tim zurück. Haben Sie vielleicht irgendeinen Verdacht? Eine Ahnung, was ihm zugestoßen sein könnte?«
Hermann Jörgensen dachte einige Zigarettenzüge lang ernsthaft nach.
»Sagen wir’s mal so«, meinte er dann. »Muriel hat es über die Jahre geschafft, sich mit der kompletten Nachbarschaft hoffnungslos zu verkrachen, und da leben natürlich eine Menge Bekloppte. Aber dass einer von denen den Jungen entführt, nur um ihr eins auszuwischen, das glaube ich dann doch nicht. Die meisten sind Weicheier, Beamte, Spießbürger ohne Rückgrat. Dem Alten, dem würde ich schon eher zutrauen, dass er Tim erwürgt und irgendwo im Keller verbuddelt hat.«
»Sie glauben im Ernst, er wäre zu so etwas fähig?«
»Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass er ziemlich gaga ist.«
»Zwischen ein wenig gaga und einem vollzogenen Mord liegt eine ziemliche Strecke.«
Die Zigarette hätte ihm in der nächsten Sekunde die senfgelben Finger versengt. Erst im allerletzten Moment zerdrückte er sie im Aschenbecher. Draußen summte eine Straßenbahn stadteinwärts.
»Ihr Vater ist auch früher schon ganz schön cholerisch gewesen«, sagte Jörgensen. »Und das ist im Alter natürlich nicht besser geworden. Aber ein Mord – da haben Sie recht – daran glaube ich auch nicht. Ich denke eher an eine Tat im Affekt oder einen Unfall. Er ist dem Jungen mehr als einmal mit erhobenem Stock hinterher, als er noch laufen konnte. Er hat Tim vom ersten Tag an abgelehnt – Quatsch, gehasst hat er ihn. Fragen Sie mich nicht, weshalb.«
»Und Ihre Frau hätte dann die Leiche verschwinden lassen.«
Diese Überlegung hatte sogar eine gewisse Logik. Auch wenn ich mir Tims Mutter nur schwer dabei vorstellen konnte, wie sie im Keller ihres Hauses den Beton aufpickelte und ein Grab aushob.
Jörgensen räusperte sich schleimig, schluckte mühsam.
»Nein«, sagte er zu seinen breiten Händen, die jetzt kraftlos auf den Oberschenkeln lagen. »Ihre Art wäre es eher, wegzurennen oder die Augen zuzumachen. Wenn etwas nicht so läuft, wie es soll, dann nimmt sie es einfach nicht zur Kenntnis. Wenn eine Rechnung kommt, mit der sie nicht einverstanden ist, dann ruft sie nicht den Absender an und macht ihn zur Schnecke, sondern legt sie zur Seite und vergisst sie.«
Plötzlich wurde mir bewusst, warum der Raum so trist wirkte: Es fehlten die Farben. Alles war hier schwarz oder weiß. Anstelle bunter Bilder hingen technische Zeichnungen an den Wänden. Brücken erkannte ich, ein vielleicht fünfzigstöckiges und ausgesucht phantasielos gestaltetes Hochhaus, eine Fabrikanlage, die Ähnlichkeit mit einem Kernkraftwerk hatte.
Ich bemerkte die schmale junge Frau erst, als sie schon hinter Jörgensen stand und die Hand auf seine Schulter legte. Sie nickte mir zu, ohne zu lächeln.
Seine Miene hellte sich auf. »Darf ich vorstellen: Leona, meine derzeitige Lebensabschnittsgefährtin.« Er tätschelte ihre Hand, als wäre sie ein kleiner Hund.
Mehr und mehr ging er mir auf die Nerven mit seinem Lachen, das keine Spur von Heiterkeit in sich trug. Leona ohne Nachnamen lachte nicht mit. Ihr Haar war kastanienbraun, und sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als der Mann im Rollstuhl.
»Hallo«, sagte sie mit der tonlosen Stimme, die ich schon vom Telefon kannte. »Warum hast du deinem Gast nichts angeboten, Hermann?«
»Er ist nicht mein Gast«, brummte Jörgensen. »Er ist von der Polizei. Stell dir vor, der Junge ist gekidnappt worden!«
Die Miene der Frau verriet weder Erschrecken noch Erstaunen. Die Tatsache schien sie völlig gleichgültig zu lassen. Inzwischen wollte ich nur noch fort. Jörgensens Zustand verlangte Mitgefühl, Verständnis, Geduld. Nichts davon fand ich in mir. Er war mir zutiefst unsympathisch, und von seiner ewigen Qualmerei war mir inzwischen schwindlig.
Ich zwang mich, ihn noch einige Minuten zu ertragen. Aber es war sinnlos. Jörgensen wusste erschreckend wenig über die Lebensumstände seiner Frau. Es war ihm gleichgültig, wie es ihr ging und was aus seinem Sohn
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