Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
in der Direktion waren. Die Frau tauchte auch in keiner unserer Fahndungsdateien auf. Nicht einmal Google kannte den Namen. Sie schien überhaupt nicht zu existieren.
»Sind Sie mal wieder auf Diät, Herr Kriminalrat?«, hörte ich die Stimme meiner Sekretärin.
Ich war am Schreibtisch eingenickt, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die Mittagszeit längst vorüber war. Offenbar hatte ich letzte Nacht noch schlechter geschlafen, als ich in Erinnerung hatte.
»Entschuldigung, aber ich hab schon dreimal angeklopft«, erklärte sie verlegen. »Es ist halb zwei. Und Sie sehen nicht gut aus, wenn ich das sagen darf. Sie werden mir doch nicht krank?«
»Ich bin übermüdet. Das ist alles.« Ich legte das Gesicht in die Hände und gähnte, dass es in den Ohren knackte. »Vielleicht habe ich mich auch mit Liebekinds Erkältung angesteckt.«
»Sie sollten vielleicht mal ein paar Tage ausspannen, Herr Kriminalrat.«
»Schön wär’s.« Ich wies auf das Papierchaos auf meinem Schreibtisch. »Aber erklären Sie mir mal, wie das gehen soll?«
»Wissen Sie was?« Plötzlich klang meine Sekretärin sehr resolut. »Ich weiß ganz in der Nähe ein gemütliches Restaurant. Da gehen wir jetzt zusammen hin, und wenn Sie nicht freiwillig essen, dann werden Sie gefüttert.«
»Es ist schon ein komisches Phänomen«, sagte ich, als die dampfenden Teller auf dem Tisch standen. »Nehmen Sie dieses Lied, das wir gerade hören. Vor Kurzem haben meine Töchter es mal gesungen, und seither habe ich das Gefühl, es läuft kaum noch etwas anderes im Radio. Als meine Frau damals schwanger war, da habe ich auf einmal nur noch Babys gesehen und Schwangere und Kinderwagen. Und wenn solche Dinge passieren wie jetzt, dann liest man plötzlich in den Zeitungen nur noch von entführten Kindern. Dabei ist das natürlich Unsinn. Die Anzahl der schwangeren Frauen dürfte über die Jahre eigentlich eher abgenommen haben, und Kinder sind auch früher schon jeden Tag irgendwo verschwunden. Man nimmt es nur nicht zur Kenntnis, solange einen das Thema nicht interessiert.«
»Ja, das kenne ich.« Sönnchen starrte auf ihr Heidelberger Bierhuhn mit Stampfkartoffeln, eine Spezialität des Hauses, und schien plötzlich keinen Appetit mehr zu haben. »Das mit den Babys.«
Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie wenig ich über das Privatleben meiner engsten Mitarbeiterin wusste. Sie sang im Kirchenchor und spielte mit großem Engagement und spärlichem Erfolg Tennis. Irgendwo in einem Vorort Heidelbergs bewohnte sie allein ein Haus mit Garten. Letztes Jahr war ich einmal mit einem Blumenstrauß dort gewesen, als ich ihren Geburtstag vergessen hatte. Damals war ich noch neu gewesen in Heidelberg, und ich hätte nicht einmal sagen können, in welchem Viertel ihr Haus stand.
Sie deutete meine Verlegenheit richtig.
»Ja, ich bin auch mal schwanger gewesen. Ist aber lange her.« Endlich setzte sich ihre Gabel wieder in Bewegung. »Hat nicht geklappt, und der Fall ist verjährt.«
»Das tut mir leid.«
»Bald danach war es dann auch vorbei mit meiner Ehe.«
»Sie waren verheiratet? Entschuldigen Sie, eigentlich sollte ich so etwas nicht fragen müssen …«
Sie lächelte wehmütig. »Sie können ja nicht von jedem x-Beliebigen alle Einzelheiten im Kopf haben.«
»Sie sind keine x-Beliebige, Sönnchen. Und ob jemand verheiratet war, ist für mich keine Kleinigkeit.«
»Echo of a night. Your lips so soft, your arms so tight«, klang es leise aus den Lautsprechern. »Nothing to fear and nothing to fight.«
Nachdenklich steckte Sönnchen sich einen Happen in den Mund, sah über mich hinweg, blinzelte. »Damals hätte ich so gern Kinder gehabt. Aber jetzt bin ich manchmal froh, dass es anders gekommen ist. Wenn man in die Zeitung guckt, es kann einen ja gruseln.«
Wir saßen im Bräustüberl an der Bergheimer Straße. Ich war noch nie zuvor hier gewesen, obwohl das heute fast leere Lokal kaum hundert Meter von der Direktion entfernt lag. Vor mir stand ein Teller mit einem verführerisch duftenden panierten Schnitzel und dem angeblich besten Kartoffelsalat der Kurpfalz, und ich brachte kaum etwas herunter.
Sönnchen legte unvermittelt die Gabel zur Seite und sah zum Fenster hinaus. Es hatte wieder zu regnen begonnen.
»Wie können Sie das aushalten?«, fragte sie. »Ewig diese Angst, dass Ihren Kindern was passieren könnte? Wie können Sie hier sitzen und nicht ständig daran denken, was mit Ihren Töchtern ist?«
»Man gewöhnt sich
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