Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
weitere Warten war nicht mehr zu verantworten. Um Frau Jörgensen zu schützen, war die Meldung jedoch sehr vage ausgefallen. Sie hatte mehr den Zweck, die Täter zu beunruhigen, als die Öffentlichkeit zu informieren. Wieder wurde ein kleiner Junge vermisst. Mehr konnte man im Moment noch nicht sagen. Und das war sogar die Wahrheit.
Kaum hatte ich aufgelegt, standen Klara Vangelis und Sven Balke schon wieder vor mir.
»Der Hammer!«, sagte Balke. Er hielt einen zerknitterten Zettel in der Hand. Vangelis setzte sich, Balke blieb stehen.
»Dieser dunkle SUV, ich hatte mich nicht getäuscht. Die Geschichte, um die es geht, ist ein bisschen konfus. Passiert ist sie nur drei Tage vor der Entführung von Andrea Basler, allerdings in einer ganz anderen Gegend. In Munderkingen, einem Örtchen westlich von Ulm an der Donau. Dort hat es damals angeblich eine versuchte Kindesentführung gegeben. Das potenzielle Opfer, Nikolas Kowalschik, war fünf, und die Kollegen sind nicht so recht schlau geworden aus seiner Geschichte. Auch die Eltern meinten am Ende, wahrscheinlich hätte er das Ganze bloß erfunden.«
Balke nahm endlich Platz. »Der Junge ist anscheinend mit einer blühenden Phantasie gesegnet, und außerdem hatte ihm die Mutter gerade mal wieder eine Predigt gehalten über böse Onkels und fremde Autos, in die man nicht steigen soll.«
Vangelis zupfte unsichtbare Fussel vom Ärmel ihrer Kostümjacke.
»Vielleicht könnten wir langsam mal zum Punkt kommen«, sagte sie. »Ich habe heute noch ein paar Dinge zu erledigen.«
Balke sah ungerührt auf seinen Zettel. »Nikolas war allein auf Entdeckungstour, ein Stück außerhalb des Orts, am Straßenrand. Und wie er später zurückkam, da hat er behauptet, ein älterer Mann hätte ihn in ein schwarzes Auto locken wollen. Mit einem Schokoriegel angeblich.«
Vangelis hörte mit der Zupferei abrupt auf.
»Nikolas und seine Eltern waren dort zu Besuch. Eine Familienfeier, man hatte in einem Gasthof groß gegessen, und der arme Junge hat sich natürlich zu Tode gelangweilt und so lange gequengelt, bis er rausdurfte.«
»Was heißt: angeblich mit einem Schokoriegel?«, fragte Vangelis.
»Dass er später nichts vorzeigen konnte, heißt das. Keine Schokolade im Gesicht oder an den Fingern. Nirgendwo hat man die Folie gefunden, in die die Dinger normalerweise eingewickelt sind. Und an einem bestimmten Punkt hat er dann plötzlich behauptet, er hätte das Teil gar nicht genommen, sondern sei einfach nur davon wie der Blitz. Das war übrigens einer der Gründe, weshalb man den Fall bald zu den Akten gelegt hat.«
»Konnte Nikolas den angeblichen Täter beschreiben?«, fragte ich.
»Älter als sein Vater, eine dunkelblaue Krawatte hätte er getragen, und nett sei er gewesen.«
Im Vorzimmer klingelte das Telefon. Ich hörte, wie Sönnchen sich mit ihrem offiziellen Sprüchlein meldete.
»Okay …« Ich war noch nicht so recht überzeugt, und auch Vangelis guckte kritisch. »Ein Geländewagen und ein Fahrer mit Krawatte – ist das nicht ein bisschen dünn?«
»Wir sind ja noch nicht fertig. Der Wagen soll ein Audi Q7 gewesen sein. Davon war der Junge nicht abzubringen.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge?«
»Der Q7 ist der Top-SUV von Audi. Nikolas hat den Wagentyp bei mehreren Tests wiedererkannt. Der Vater betreibt eine Tankstelle mit Werkstatt irgendwo nördlich von Bayreuth in der Nähe der tschechischen Grenze. Deshalb hatte Nikolas mit Autos zu tun, seit er laufen konnte.«
Vangelis strich mit undurchsichtiger Miene ihren Rock glatt.
»Nach dem Kennzeichen brauche ich wohl nicht zu fragen«, meinte ich. »Fünfjährige können ja noch nicht lesen.«
Balke wuchs ein Stückchen. »Das ist ja der Clou dabei! Nikolas konnte schon die meisten Buchstaben lesen. Der Wagen soll aus dem Landkreis Hof gekommen sein. Hof liegt keine zwanzig Kilometer vom Wohnort der Eltern entfernt. Der Junge hat also gewusst, wie das Kennzeichen aussieht.«
Sönnchen telefonierte immer noch. Mit jedem Satz wurde sie lauter, und es klang nicht, als genösse der Anrufer ihre Sympathie. »Hat jetzt aber keine Zeit«, verstand ich und: »Nein, später auch nicht.« Offenbar versuchte wieder einmal irgendein Querulant oder besonders hartnäckiger Journalist, sich zu mir durchzunörgeln. Aber da hatte er heute schlechte Karten. Ich hatte sie gebeten, mir alles vom Hals zu halten, was nicht wirklich dringend war. Und in diesem Punkt war auf meine Sekretärin Verlass.
Vangelis sah demonstrativ
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