Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Gegensatz zu ihrem neuen Chef.
»Dann haben Sie doch bestimmt auch die Nummer von diesem Kotzbrocken irgendwo.«
»Kotzbrocken ist gut. Ja, aufgeschrieben hab ich die bestimmt.« Ratlos kaute sie auf der Unterlippe. »Das mach ich ganz automatisch.«
»Aber Sie wissen nicht, wo.«
Verlegen schüttelte sie den Kopf. »Es ist also doch wichtig?«
Ich erhob mich und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Gut möglich, dass wir den Kerl seit Tagen suchen wie die Verrückten.«
»Also hab ich doch was falsch gemacht.«
»Wir machen alle Fehler, Sönnchen. Bei mir merkt es nur meistens keiner.«
»Dafür stehen Sie dann später in der Zeitung, wenn’s rauskommt.« Plötzlich sah sie auf. »Wenn ich diesen Zettel weggeschmissen hab, dann hab ich ihn natürlich ins Altpapier getan!«
Auch sie hatte einen Karton unter ihrem Schreibtisch stehen. Ihre Dauerwellenfrisur mit Strähnchen verschwand kurz unter der Tischplatte, dann wuchtete sie ihre gut gefüllte Altpapierkiste auf den Tisch.
»Wenn ein Archäologe in zehntausend Jahren unsere schöne Direktion ausgräbt«, stöhnte sie, »dann wird er denken, er hätte eine prähistorische Papierfabrik entdeckt.«
Ich ging in mein Büro zurück und ließ sie in Ruhe. In wenigen Minuten würde das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft beginnen, das in meinem Fall nicht Vernehmung, sondern Befragung genannt wurde und bei dem Liebekind unbedingt dabei sein wollte. Ich sichtete ein letztes Mal meine Unterlagen, beantwortete mir im Stillen jede vorstellbare Frage und hatte plötzlich wieder kalte Finger.
Als ich kurze Zeit später mit einigen Akten unterm Arm mein Vorzimmer durchquerte, hockte meine Sekretärin inmitten eines kleinen Papiergebirges lautlos schluchzend am Boden.
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, versuchte ich sie zu trösten.
»Stellen Sie sich bloß vor«, schniefte sie, »das Kind hätte gerettet werden können, wenn ich blöde Nudel diese Nummer nicht verschlampt hätte!«
»Sie haben sie nicht verschlampt, sondern höchstens weggeworfen. Und Sie konnten ja unmöglich wissen, dass der Anruf mal wichtig werden könnte. Außerdem ist gar nicht erwiesen, dass der Kerl tatsächlich was beobachtet hat. Vermutlich war er nur scharf auf die Belohnung.«
»Mein Leben lang würd ich mir Vorwürfe machen! Mein Leben lang!«
Ich ging neben ihr in die Hocke und half ihr, das Papier wieder in den Karton zu stopfen.
»Wissen Sie was? Jetzt setzen Sie sich hin und machen eine Liste, was Sie an dem Vormittag getan haben«, sagte ich, als der Boden wieder sauber war. »Von dem Moment an, als Sie morgens aufgestanden sind, bis zu dem, als das Telefon geklingelt hat. Manchmal hilft das, sich zu erinnern. In einer halben Stunde bin ich wieder da, und dann sehen wir weiter.«
Es dauerte dann doch weit über eine Stunde, bis ich von der nervtötenden Besprechung mit der Leitenden Oberstaatsanwältin Frau Dr. Steinbeißer und meinem heute sehr schweigsamen Chef zurückkehrte.
Soweit das Gespräch den Fall Gerlach betraf, war es – wie Theresa prophezeit hatte – eine Farce. Die Staatsanwaltschaft hatte inzwischen alle greifbaren Aufzeichnungen der vermaledeiten Pressekonferenz ausgewertet. Das Ergebnis war wie erwartet: Mir war nichts vorzuwerfen. Die Presseleute hatten mich falsch verstanden, weil sie mich falsch verstehen wollten.
Anschließend hatten wir lange den Fall Jörgensen diskutiert. Und dieser Teil des Gesprächs war weit weniger angenehm gewesen.
»Sie bekommen ja zurzeit gute Presse als der Rudy Giuliani Heidelbergs«, stellte die Staatsanwältin mit nicht zu deutender Miene fest. »Aber auf diesen Lorbeeren sollten Sie sich nicht allzu lange ausruhen. Was ist übrigens aus der zerstörten Schranke geworden, von der man ständig liest?«
»Wir arbeiten daran«, erwiderte ich, ohne rot zu werden. »Mit gebremstem Schaum natürlich.«
»Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen einen Ermittlungsauftrag gegeben zu haben.«
»Sehen Sie es als Imagepflege. Die Polizei, dein Freund und Helfer. So etwas braucht die Öffentlichkeit hin und wieder.«
»Hm.« Frau Dr. Steinbeißer, die ich mir ohne ihren akademischen Titel nicht vorstellen konnte, klang nicht überzeugt. »Und was darf ich den Zeitungsleuten zu dem neuen Entführungsfall erzählen? Sie waren ja seit gestern Nachmittag leider nicht erreichbar. Und Ihre Berichte waren auch schon informativer, wenn Sie mir die kleine Kritik gestatten.«
»Ich hatte einen wichtigen privaten Termin,
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