Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
tut mir leid. Aber inzwischen liegen mir die Laborergebnisse vor. Wir haben bisher keinen Beweis dafür gefunden, dass Tim Jörgensen in seinem Elternhaus etwas zugestoßen ist. Ein größerer Blutfleck am unteren Ende der Treppe stammt nachweislich vom Großvater, der vor Wochen dort gestürzt ist und anschließend Nasenbluten hatte. Dafür gibt es aber im Fall Sander eine neue Spur.«
Ich berichtete von dem dunklen Geländewagen und dem Mann mit Krawatte, von Andrea Basler und Nikolas Kowalschik, einem tatsächlich und einem beinahe entführten Kind.
Selbstverständlich war die Staatsanwältin nicht zufrieden mit meinen Ergebnissen. Energisch verlangte sie mehr Phantasie und Engagement und dabei natürlich jede erdenkliche Rücksichtnahme und Schonung der Angehörigen. Liebekind machte zu allem ein sorgenvolles Gesicht und ließ mich hängen. Seine Erkältung schien ihm noch in den Gliedern und im Kopf zu stecken.
Eine Weile hatten wir hin und her überlegt und am Ende gemeinsam beschlossen, dass alles genau so weiterlaufen solle, wie ich es anfangs vorgeschlagen hatte. Noch waren nicht einmal alle Spuren ausgewertet, noch wussten wir im Fall Tim Jörgensen im Grunde genommen nichts. Außer dass es bis zu seinem Verschwinden eine Putzfrau gegeben hatte, die auch für die Familie Sander gearbeitet hatte. Aber diesen Punkt verschwieg ich. Es war immer gut, für magere Zeiten noch einen Trumpf im Ärmel zu haben.
Sönnchen hatte sich inzwischen beruhigt und getan, worum ich sie gebeten hatte. Nun wollte sie mir ihre mit akkurater Handschrift erstellte Liste überreichen. Aber ich hatte eine bessere Idee.
»Wir gehen wieder zusammen essen, und dabei können wir in Ruhe Ihre Liste durchgehen.«
Sie riskierte ein vorsichtiges Lächeln.
Zehn Minuten später saßen wir wieder im Bräustüberl am selben Tisch wie am Vortag. War das wirklich erst gestern gewesen? Dazwischen lagen Weißenburg, ein traumhaftes Abendessen, eine paradiesische Nacht mit Theresa und ein paar verträumte Stunden an der Lauter.
»Dann geben Sie mal her«, sagte ich aufgeräumt.
Aber meine immer noch deprimierte Sekretärin wollte die Liste plötzlich doch nicht aus der Hand geben, sondern las lieber vor: »Um sechs bin ich aufgewacht. Vor dem Wecker, wie meistens. Ich weiß noch, dass der Zahn immer noch ein bisschen wehgetan hat, wegen dem ich am Freitag beim Arzt war. Dann bin ich eine Runde gelaufen, und anschließend hab ich geduscht. In der Küche hab ich später das Radio angemacht, da wird es ungefähr sieben gewesen sein, und die Kaffeemaschine und hab das Obst fürs Müsli gerichtet. Ich kann mich noch erinnern, wie in den Nachrichten kam, dass die Eltern diese wahnsinnige Belohnung ausgesetzt haben. Fünfzigtausend Euro! Später, in der Straßenbahn, haben auch ein paar Leute drüber geredet. Und dann war ich im Büro. Kurz vor acht, wie üblich.«
Zeile für Zeile fuhr ihr Zeigefinger die Liste abwärts. »Da hab ich dann als Erstes eine Freundin angerufen, aus dem Gesangsverein, weil unser Chorleiter sich am Sonntag so unmöglich aufgeführt hat.«
Die junge Bedienung kam mit unseren Tellern. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Dutt gedreht und trug eine bodenlange schwarze Schürze. Sönnchen schob ihre gebratenen Maultaschen mit Ei achtlos beiseite. »Aber das hat bestimmt keine fünf Minuten gedauert. Allerhöchstens zehn. Anschließend bin ich im Keller gewesen.«
»Bei Ihrer Freundin im Archiv?«
»Hab ein paar Sachen runterbringen müssen. Alte Fälle. Aber keine Viertelstunde später hab ich schon wieder am Schreibtisch gesessen.«
Ich hatte dasselbe bestellt wie Sönnchen und begann zu essen. Mein Ultrakurzurlaub mit Theresa hatte offenbar auch meinem Appetit gutgetan.
»Ich weiß noch, dass ich mit der Gerda auch kurz über die Belohnung geredet hab.« Sönnchen sah auf. »Und dann sind Sie gekommen. Wissen Sie noch, wie Sie mich gefragt haben, ob ich beim Friseur war?«
»Nein.«
»Haben Sie aber. Dabei war das schon über eine Woche her. Sie haben gelacht und sich entschuldigt. Das find ich übrigens nett an Ihnen, Herr Kriminalrat, dass Sie sich auch mal bei Ihrer Sekretärin entschuldigen. Obwohl Sie der Chef sind.«
»Und weiter?«
»Kaum sind Sie aus der Tür gewesen, da hat dieser Blödian angerufen.« Sie legte die Liste auf den Tisch und sah mich an. »Und das war’s. Mehr ist mir beim besten Willen nicht eingefallen.«
»Was hatten Sie auf dem Tisch an dem Vormittag?«
»Sie meinen, welche
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