Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Beispiel der Ansicht sein, Tim hätte es bei ihm besser als bei Ihnen.«
Mehr erschrocken als empört starrte sie mich an. »Aber das ist doch Unsinn! Er ist doch Tims Vater!«
Ich sah auf den Tisch. Schob den blitzblanken und winzig kleinen Kristallaschenbecher im Kreis herum, der dort stand.
»Frau Jörgensen, es hat Väter gegeben, die haben ihrem Kind zwanzig Knochen gebrochen, bevor sie es aus dem Fenster warfen. Es hat Eltern gegeben, die sahen tagelang fern, während ihr Baby im Nachbarzimmer verhungert ist, um es am Ende in die Mülltonne zu stopfen. Sie lesen ja vermutlich auch Zeitung.«
»Aber nicht diese Dinge!« Muriel Jörgensen schüttelte den Kopf, als müsste sie Gespenster verscheuchen.
Ich ließ einige Sekunden verstreichen, bevor ich zur nächsten Frage kam, die eher eine Feststellung war.
»Sie haben sich erst relativ spät entschlossen, Kinder zu bekommen.«
»Kinder?«
»Tim.«
»Ich war siebenunddreißig.«
»Wollte Ihr Mann keine?«
Sacht schüttelte sie den Kopf. »Er … Hermann war immer so viel unterwegs. Er war selten zu Hause.« Sie verknotete ihre etwas zu kurzen Finger und sah mich an. »Sie haben ihn gesprochen? Wie geht es ihm?«
»Nicht besonders, ehrlich gesagt. Aber er trägt sein Schicksal tapfer.«
»Muss er … sitzt er im Rollstuhl?«
»Leider.«
»Das ist es, wovor er sich am meisten gefürchtet hat. Dass er einmal nicht mehr für sich selbst sorgen kann.«
»Ich muss leider noch einen anderen Punkt ansprechen«, sagte ich vorsichtig und nun fast ebenso leise wie sie. »Sie werden mich dafür hassen, aber ich kann Ihnen die Bemerkung nicht ersparen: Nicht wenige Menschen schaffen sich Kinder an, weil sie hoffen, dadurch ihre Ehe zu retten.«
Ihr eben noch so blasses Gesicht wurde tiefrot.
»Was erlauben Sie sich?«, kreischte sie mit unerwarteter Lautstärke. »In meinem Haus? Sie sind ja … Gehen Sie! Sofort!«
»Frau Jörgensen, bitte …«
»Gehen Sie! Gehen Sie!«
Oben polterte etwas. Der alte Mann war aufgewacht. Erschrocken wurde sie leiser.
»Bitte …«, sagte sie flehend.
Schritte tappten über uns, eine Tür klappte. Ich stand von der Couch auf, hob die Hand zum Gruß, aber sie sah nicht einmal hin.
Hätten wir Schiffeversenken gespielt, dachte ich, während ich durch den strömenden Regen zum Wagen lief, dann hätte es jetzt nicht »Treffer« geheißen, sondern »versenkt«.
19
In der Samstagsausgabe der Rhein-Neckar-Zeitung war ich der Held auf Seite Eins. Erste Erfolge der neuen Null-Toleranz-Politik, prangte die Überschrift unter meinem immergleichen Foto. Die Heidelberger freuten sich, auf den Straßen plötzlich viel mehr Streifenwagen zu sehen als früher, was natürlich ein Fall kollektiver Wahrnehmungsstörung war. Das Polizeirevier Mitte meldete einen signifikanten Rückgang bei Delikten wie Vandalismus, Belästigung oder Ruhestörung, was sich relativ einfach durch das schlechter gewordene Wetter erklären ließ. Der Sprecher der Heidelberger Verkehrsbetriebe wusste zu berichten, die Zahl der Schwarzfahrer sei um siebzehn Prozent zurückgegangen. Das immerhin mochte daran liegen, dass manche plötzlich mehr Angst hatten, erwischt zu werden, und damit ein Erfolg meiner fiktiven Kampagne sein.
Den Zeitungsboten hatte ich um kurz vor sechs am Briefkasten abgefangen. Ich frühstückte reichlich – wer in Heidelberg eine Wohnung sucht, braucht Kräfte – und wertete nebenbei nach einem selbst entwickelten Punktesystem die Wohnungsanzeigen aus. Ich fertigte eine übersichtliche Liste an mit Lage, Preis und Besonderheiten, verteilte Noten und Prioritäten, speicherte die zugehörigen Telefonnummern in meinem Handy, um später keine Zeit zu verlieren. Es sah gut aus: Ausnahmsweise regnete es nicht, ich fühlte mich ausgeruht, der Stadtplan lag bereit, der Akku meines Handys war randvoll. Um Punkt acht war ich auf der Straße.
Bis Mittag hatte ich sieben Objekte besichtigt und war restlos frustriert. Alles, was auf meiner Liste stand, war entweder bereits vergeben oder kam schon bei flüchtigem Hinsehen nicht infrage. Nur einen Vermieter hatte ich noch immer nicht erreicht. Entweder es war besetzt, oder es wurde nicht abgenommen. Vermutlich lag das daran, dass die Beschreibung der angebotenen Altbauwohnung so unglaublich gut klang und die Miete sensationell niedrig war. Ich vermutete einen Druckfehler: Sechs Zimmer, zweihundertsechzig Quadratmeter, gern auch an Studenten-WG. Neben einer Handynummer war auch eine Festnetznummer
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