Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
wir sollten Tims Vater mal genauer unter die Lupe nehmen.«
»Was wäre sein Motiv?«, fragte ich ein wenig überrascht. »Der Mann ist sterbenskrank. Ich glaube kaum, dass er im September noch fit genug war, seinen Sohn zu entführen. Und vor allem: wozu?«
»Wie meistens: wegen Kohle. Nach allem, was ich über die finanziellen Verhältnisse der Leute weiß, hat die Frau das Geld. Genauer, ihr Vater. Jörgensen hat nichts mit in die Ehe gebracht als sein Ingenieursdiplom. Vermutlich hat er sie vor allem aus finanziellen Gründen geheiratet. Der alte Herr Gernhardt war damals schon fast achtzig. Jörgensen wird sich gedacht haben, er kann bald seine Baufirma übernehmen.«
»Sie glauben im Ernst, er erpresst seine eigene Frau?«
»Man hat schon Pferde kotzen sehen. Und der Mann muss massive finanzielle Probleme haben. Seine Behandlungen kosten ein Schweinegeld, und aufgrund seines langen Auslandsaufenthalts ist er irgendwie nicht richtig krankenversichert, habe ich herausgefunden.«
»Wie findet man denn so etwas heraus?«
Balke senkte den Blick und verweigerte in diesem Punkt die Aussage. »Wäre doch alles in allem ein prima Motiv, finden Sie nicht?«
Vangelis nickte nachdenklich.
»Der Typ für so was wäre er«, mutmaßte ich.
»Vielleicht braucht er Geld für eine teure Therapie in Amerika?«
»Sie weigert sich zu bezahlen und beauftragt stattdessen Pretorius, ihren Sohn zu suchen …«, spann ich Balkes Faden weiter.
»Der findet ihn zwar nicht, kassiert aber trotzdem ab.«
»Ich werde noch mal mit ihr reden«, beschloss ich. »Am besten allein. Kann sein, dass ich diesmal ein wenig ungemütlich werden muss.«
Muriel Jörgensen musterte mich mit unverhohlener Feindseligkeit. Sie kam mir noch blasser und knochiger vor als bei den früheren Gesprächen.
»Dürfte ich hereinkommen?«, fragte ich betont liebenswürdig. »Es ist ziemlich ungemütlich vor der Tür.«
Heute regnete es mehr waagerecht als senkrecht. Über dem Ostatlantik standen die Tiefdruckgebiete Schlange. Der Wind war über Nacht wieder stärker geworden. Irgendwo in der Nachbarschaft schepperte eine Jalousie.
»Was wollen Sie denn noch?«
»Wenn möglich, Ihren Sohn gesund zurückbringen.«
Wortlos öffnete sie die Tür gerade so weit, dass ich hineinschlüpfen konnte.
»Bitte seien Sie leise«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Er schläft endlich. Die Nacht war ein Albtraum.«
Ich hängte meinen nassen Mantel an die bis auf einen cremeweißen dünnen Regenmantel leere Garderobe und stellte den tropfenden Schirm in den dafür vorgesehenen gusseisernen Ständer. Wir setzten uns im Wohnzimmer auf dieselben Plätze wie beim letzten Mal. Erst als ich schon saß, wurde mir bewusst, dass der Regenmantel feucht gewesen war.
»Vielleicht machen wir Licht?«, schlug ich vor. »Man sieht sich ja kaum.«
Beflissen erhob sie sich und knipste die Tiffanylampe auf dem Ecktischchen an. Eine Energiesparbirne flackerte auf. Dann nahm sie eilig wieder Platz, als wollte sie das lästige Gespräch möglichst rasch hinter sich bringen.
Ich begann im Plauderton: »Zunächst die gute Nachricht: Unsere Durchsuchung hat keinerlei Hinweise erbracht, dass Ihrem Sohn hier etwas zugestoßen sein könnte.«
Das war offenbar nicht ihre Sorge gewesen. Ihre Miene blieb unverändert.
Ernster fuhr ich fort: »Sie haben mir eine Menge Märchen aufgetischt, Frau Jörgensen. Erst heißt es, Ihr Sohn sei in Norddeutschland, später plötzlich auf Korfu, und schließlich behaupten Sie, er sei entführt worden. Um ehrlich zu sein, ich glaube Ihnen inzwischen kein Wort mehr. Ich bin auch überzeugt, dass wir an dem sogenannten Erpresserschreiben keine Spuren finden werden außer von Ihnen selbst.«
Heute hatte sie sich besser in der Gewalt als bei unserem letzten Gespräch. Ihr Blick blieb konzentriert und wachsam.
»Ist es nicht normal, dass Sie auf einem Erpresserbrief keine Spuren finden?«, meinte sie. »Man sieht doch jeden Tag im Fernsehen, dass man bei so etwas Handschuhe tragen sollte.«
Ich machte den ersten Schwenk. »Hätten Sie etwas dagegen, mir Ihre Kontoauszüge der letzten Wochen zu zeigen?«
»Wozu?« Sie war weder überrascht noch erschrocken.
»Ich habe meine Gründe«, antwortete ich mit der blödesten aller Begründungen.
Sie erhob sich, verschwand mit eiligen, aber lautlosen Schritten kurz in einem Nebenzimmer und brachte mir ein dünnes, weißes Mäppchen. Ich brauchte nicht lange zu blättern, es gab nicht viel Bewegung auf
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