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Alibi für einen König

Alibi für einen König

Titel: Alibi für einen König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Tey
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bisher nicht die Mühe gemacht, dieses Vorwort zu lesen. Nun aber schlug er es auf, um festzustellen, wie denn More gleichzeitig der Historiker Richards III. und der Kanzler Heinrichs VIII. sein konnte. Wie alt war More, als Richard den Thron bestieg?
    Er war fünf Jahre alt.
    Als jene dramatische Ratssitzung im Tower stattfand, war Thomas More fünf Jahre alt gewesen. Als Richard bei Bosworth fiel, war er erst acht Jahre alt gewesen.
    Also hatte er alles nur aus zweiter Hand.
    Und wenn es etwas gab, was ein Polizist verabscheute, dann waren es Geschichten aus zweiter Hand, schon gar, wenn man sie von der Zeugenbank zu hören bekam.
    Er war so angewidert, daß er das kostbare Buch auf den Boden schleuderte, im Augenblick völlig vergessend, daß es Eigentum einer öffentlichen Bibliothek und ihm nur liebenswürdigerweise für vierzehn Tage zur Verfügung gestellt war.
    More hatte Richard III. überhaupt nie gekannt. Er war unter einer Tudor-Regierung aufgewachsen. Dieses Buch war, soweit es sich um Richard III. handelte, das Evangelium aller historisch interessierten Menschen, die Quelle, aus der Shakespeare geschöpft hatte – und bis auf die Tatsache, daß More für wahr hielt, was er niederschrieb, hatte es keinerlei Wert. Der kritische Verstand und die bewunderungswürdige Integrität Mores machten seinen Bericht noch lange nicht glaubwürdig. Grant hatte sich zu lange mit der menschlichen Intelligenz beschäftigt, um eines Menschen Aussage über eines anderen Menschen Mitteilung darüber, was wieder ein anderer gesehen oder gehört zu haben meinte, für wahr zu halten.
    Er war angewidert.
    Bei der nächsten Gelegenheit mußte er sich einen authentischen zeitgenössischen Bericht über die Geschehnisse während Richards kurzer Regierungszeit verschaffen. Die Stadtbibliothek konnte Sir Thomas More morgen wieder zurückhaben, ihre vierzehn Tage sollten ihr geschenkt sein. Die Tatsache, daß Sir Thomas ein Märtyrer und ein großer Geist war, stimmte ihn, Alan Grant, nicht milder. Er, Alan Grant, kannte große Geister, die so kritiklos waren, daß sie eine Geschichte, über die jeder Hochstapler vor Scham errötet wäre, ohne weiteres glaubten. Er hatte einen bedeutenden Wissenschaftler gekannt, der felsenfest davon überzeugt war, daß ein Fetzen Gaze seine Großtante Sophia war, nur weil ein analphabetisches Medium aus den Hinterhöfen von Plymouth ihm das eingeredet hatte. Er hatte auch einen Mann gekannt – eine hervorragende Autorität auf dem Gebiet des menschlichen Geistes und seiner Entwicklung –, der von einem unverbesserlichen Ganoven bis aufs Hemd ausgezogen worden war, nur weil er sich »sein eigenes Urteil« bildete und nichts von Polizeiberichten hielt. Wenn man ihn, Alan Grant, fragte, dann gab es nichts Unkritischeres oder Dämlicheres als einen großen Geist. Für ihn, Alan Grant, war Thomas More ein für allemal erledigt, abgeschrieben und ad acta gelegt. Und er, Alan Grant, würde morgen früh wieder ganz von vorn anfangen.
    Als er einschlief, schäumte er noch immer vor sinnloser Wut, und wütend erwachte er auch.
    »Wußten Sie, daß Ihr Sir Thomas More Richard III. überhaupt nicht gekannt hat?« fragte er vorwurfsvoll die Amazone, kaum daß deren wuchtige Gestalt im Türrahmen erschienen war.
    Sie blickte ihn verblüfft an. Aber es war nicht seine Frage, die sie erstaunte, sondern der wilde Ton, in dem er sie gestellt hatte. Sie machte ein Gesicht, als würde sie beim nächsten zornigen Wort in Tränen ausbrechen.
    »Aber natürlich kannte er ihn!« protestierte sie. »Er hat doch damals gelebt.«
    »Er war acht Jahre alt, als Richard starb«, sagte Grant unerbittlich. »Und alles, was er wußte, hatte er nur gehört. So wie ich. So wie Sie. Sir Thomas Mores Geschichte von Richard III. ist keineswegs sakrosankt. Sie ist nichts anderes als ein verdammtes Nachgeplapper von aufgeschnappten Dingen und ein Schwindel.«
    »Fühlen Sie sich heute morgen nicht wohl?« fragte die Amazone besorgt. »Haben Sie vielleicht Fieber?«
    »Ob ich Fieber habe, weiß ich nicht. Aber mein Blutdruck ist gestiegen.«
    »Ach Gott, ach Gott«, sagte sie und nahm sein Gerede wörtlich. »Und Sie hatten so schöne Fortschritte gemacht. Da wird Schwester Ingham aber traurig sein. Sie hat überall in den höchsten Tönen von Ihrer raschen Genesung erzählt.«
    Der Gedanke, daß die Zwergin ihn zum Gegenstand rühmender Erzählungen machte, war Grant ein neuer, wenn auch keineswegs erfreulicher Gedanke. Er beschloß,

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