Alibi für einen König
jenem köstlichen Zwischenstadium vor dem völligen Vergessen, als er spürte, daß jemand sich über ihn beugte und ihn betrachtete. Er schlug neugierig die Augen auf und blickte geradewegs in ängstlich forschende braune Augen. Sie gehörten der Amazone. Im dämmerigen Schein der Nachttischlampe wirkten sie noch größer und kuhartiger als sonst. Die Amazone hielt einen gelben Umschlag in der Hand.
»Ich wollte Sie nicht stören«, sagte sie. »Ich wußte nicht, was ich machen soll, denn es könnte ja vielleicht wichtig sein. Das Telegramm nämlich. Man weiß ja nie. Und wenn ich es Ihnen heute abend nicht mehr gegeben hätte, dann hätte das eine Verzögerung von zwölf Stunden bedeutet. Schwester Ingham hat Ausgang, und ich konnte niemanden fragen, weil Schwester Briggs ihren Dienst erst um zehn beginnt. Hoffentlich habe ich Sie nicht aufgeweckt. Sie haben doch noch nicht richtig geschlafen?«
Grant versicherte ihr, daß sie sich ganz richtig verhalten habe, und sie gab einen so erleichterten Seufzer von sich, daß sie beinah das Porträt Richards vom Nachttisch geweht hätte. Während er das Telegramm las, stand sie mit dem Ausdruck eines Menschen neben ihm, der bei eventuellen schlimmen Nachrichten sofort Hilfe zu leisten bereit ist. Für die Amazone konnten Telegramme nur Böses bringen.
Das Telegramm war von Carradine.
Es lautete:
»sie wollen also dass es noch eine anschuldigung gibt fragezeichen – brent.«
Grant nahm das vorbezahlte Rückantwortformular und schrieb:
»Ja. Am liebsten in Frankreich.«
Dann sagte er zur Amazone: »Ich glaube, Sie können jetzt das Licht auslöschen. Ich werde bis morgen früh um sieben schlafen.«
Er schlief mit dem Gedanken ein, wann Carradine wohl wieder käme und wie die Chancen für das von ihm so ersehnte zweite Gerücht stünden.
Carradine erschien sehr bald und sah keineswegs wie ein Selbstmordkandidat aus. Im Gegenteil, er schien auf seltsame Weise gewachsen zu sein. Sein Mantel wirkte nicht mehr wie ein Umhang, sondern beinah wie ein Kleidungsstück. Er strahlte Grant an.
»Mr. Grant, Sie sind einfach toll. Gibt es noch mehr solche Leute bei Scotland Yard? Oder sind Sie eine Ausnahme?«
Grant sah ihn ungläubig an. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie ein französisches Gerücht ausgegraben haben?«
»Wollten Sie das denn nicht?«
»Doch. Aber ich wagte es kaum zu hoffen. Die Aussichten erschienen mir zu gering. Und welche Form hat das Gerücht in Frankreich angenommen? Die einer Chronik? Eines Briefes?«
»Nein. Etwas viel Überraschenderes. Eigentlich etwas viel Niederschmetternderes. Es scheint, daß der Kanzler von Frankreich auf dieses Gerücht in einer Rede vor den Generalstaaten in Tours angespielt hat. Ja, er kam sogar sehr ausführlich darauf zu sprechen. In gewisser Weise war die Ausführlichkeit, mit der er sich darüber verbreitete, das einzig Erfreuliche in der ganzen Angelegenheit.«
»Weshalb?«
»Nun, es erinnerte mich an unsere Senatoren, die in Harnisch geraten, wenn jemand einen Antrag stellt, der der eigenen Wählerschaft mißfallen könnte. Es roch nach Politik und nicht nach Staatsräson, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.«
»Sie sollten in Scotland Yard arbeiten, Brent. Und was hat der Kanzler gesagt?«
»Tja, das habe ich hier in französischer Sprache, und mein Französisch ist nicht gerade gut. Vielleicht lesen Sie es lieber selber.«
Er reichte Grant ein Stück Papier, auf dem in seiner kindlichen Handschrift stand:
»Regardez, je vous prie, les événements qui après la mort du roi Edouard sont arrivés dans ce pays. Contemplez ses enfants, déjà grands et braves, massacrés impunément, et la couronne transportée à l’assassin par la faveur des peuples.«
»›Ce pays‹«, sagte Grant. »Da liegt seine ganze Wut gegen England drin. Er deutet sogar an, es sei der Wille des englischen Volks gewesen, daß diese Knaben ›massakriert‹ wurden. Man stellt uns als ein barbarisches Volk hin.«
»Ja, genau das. Das habe ich gemeint. Ein Abgeordneter, der ein Plus für sich buchen möchte. In Wirklichkeit hat der französische Staat noch im gleichen Jahr – etwa sechs Monate später – einen Gesandten zu Richard geschickt. Also war man vermutlich dahintergekommen, daß das Gerücht der Wahrheit entbehrte. Richard Unterzeichnete eine Urkunde, die dem Gesandten und seinen Begleitern sicheres Geleit zusagte. Das hätte er gewiß nicht getan, wenn Frankreich ihn noch immer als einen mordenden
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